Kip Supernova

PLANET BAAB

3D Computer Graphic Art by Kip Supernova

TRAUMDÄMON

Mune Fanfiction von Kip Supernova



1

Er war an der Grenze zwischen Tag und Nacht, die Dämmerung hatte ihm immer Schutz gegeben. Jedenfalls bis jetzt, denn sie hatten ihn und sein Geheimnis entdeckt. Albs Lungen brannten wie Feuer, sein Atmen rasselte und in seinen Augen standen Tränen. Tränen der Verzweiflung, aber auch Tränen des Schmerzes, denn er war wahrlich kein sehr sportlicher Faun und die Flucht durch den Wald, über unwegsames Gelände, Bäume und Flüsse, setzte ihm ziemlich zu.

Als Faun war Alb zwar sehr schlank und wendig, aber er hatte nicht sehr viel Ausdauer. Und jene, die ihn gerade jagten, ihm böse, wutentbrannte Wörter hinterher brüllten, waren nicht nur fitter und stärker als er, nein: Sie waren auch bewaffnet!


"Da vorne ist er!", hörte Alb einen von ihnen rufen, und im nächsten Moment flog auch schon ein Stein nur knapp an seinem linken Ohr vorbei. Er zuckte vor Schreck zusammen, blickte sich kurz um und dann krabbelte er wie eine Spinne den Stamm eines großen, alten Baumes hoch bis zum ersten Ast, hielt verzweifelt Ausschau, blickte in die Ferne. Der Tempel ... er musste doch da irgendwo sein. Schließlich befand er sich bereits auf der Nachtseite des Planeten. Doch nichts war zu sehen, nicht einmal der Mond ...


Ich muss weiter ... Alb suchte Schutz in den großen, breiten Bamba-Blättern, die am Fuße der Bäume herausragten - gerade noch rechtzeitig, denn seine Verfolger hatten ihn gesehen, wie er auf dem Baum war! Doch jetzt nicht mehr, denn Albs Fellfarbe half ihm hier ausnahmsweise mal dabei, seine Gesundheit - wenn nicht sogar sein Leben - zu schützen! Denn die Bamba-Blätter hatten bei Nacht eine hellgraue Farbe. Albs Fell war schneeweiß, jedoch verschmolz er optisch mit den Blättern zu einem Gebilde, das für einen Betrachter auf dem ersten Blick wie ein Gemisch aus Licht - Albs Fell - und Schatten - die Blätter - aussehen mochte.

Seine Verfolger rannten an ihm vorbei; Alb hockte mit angehaltenem Atem unter einem der Blätter und blickte wie erstarrt auf die Füße, die nur knapp vor seiner Nase auf den weichen Waldboden auftraten und im nächsten Moment sich immer weiter entfernten . Sie hatten ihn nicht gesehen!


Alb wartete noch einige Herzschläge lang und horchte auf die sich stetig entfernenden Schritte und Stimmen seiner Verfolger, bis er sich sicher war, dass sie sich außer Hörweite befanden und er sich erleichtert traute aufzuatmen. Er legte den Kopf auf den weichen Waldboden, schloss die Augen und ließ es zu, dass ihm Tränen der Trauer und Angst aus den Augenwinkeln über seine behaarten Wangen rollten. Ein leises Schluchzen war in dem ansonsten sehr ruhigen und friedlichen Wald zu hören, doch außer ein paar Vögeln und Leuchtschmetterlingen hörte niemand Alb weinen.


Nach einer Weile rappelte sich Alb langsam auf, wischte sich kleine, vertrocknete Blätter und Erdkrümel aus seinem Fell und seufzte. Er stand inmitten eines wunderschönen Waldes, einer wunderschönen Nacht, erhellt von leuchtenden Pflanzen und Insekten und war gefühlt am Ende seines Lebens. Wie oft hatte er davon geträumt, diesen Wald zu sehen, unter seinen Füßen den weichen, feuchten Boden zu spüren, den Duft von Laub und Nadeln in der Nase zu haben und seine Klänge in seinen großen Ohren vibrieren zu lassen.


Doch Alb wurde gejagt, gehasst, bespuckt und mit Steinen beworfen - von einem auf den anderen Tag. Nur mit knapper Not war er dem Tod entkommen, dem ihm sein eigenes Volk zusetzen wollte!


Mit gesenktem Kopf trottete er durch das Unterholz weiter Richtung Norden, wo angeblich der Tempel des Mondwächters seine Bahnen ziehen sollte. Das hatte Alb zumindest mal gelesen in den verbotenen Büchern.


Er griff mit seiner Pfote in die Ledertasche, die er um seine Schultern trug und holte die aus einem Buch herausgerissene Seite hervor und betrachtete die Karte.


"Zwischen Tag und Nacht, Mond und Sonne, Licht und Finsternis zieht der Tempel des Mondwächters seinen Bahnen", flüsterte Alb die Worte, die mit einer verschnörkelten Schrift über der Karte standen. "Der Nordstern weist den Weg, wenn er am hellsten am Himmel steht."

Alb blickte zum Himmel, und tatsächlich: Der Nordstern war flackernd zu sehen und schien wie eine Laterne in der Nacht den Weg weisen zu wollen. Er faltete die Buchseite wieder zusammen und verwahrte sie sorgsam wie einen Goldschatz in seiner Tasche. Dann wischte er sich mit dem Pfotenrücken seine Tränen aus dem Gesicht, atmete tief durch und sagte entschlossen: "Weiter geht´s, nicht aufgeb -"


Im nächsten Moment schoss ihm ein beißender Schmerz durch den Schädel; er taumelte und war kurz taub; einen Herzschlag später spürte er einen zweiten Schlag. Insgesamt flogen ihm drei große Steine von der Seite entgegen. Die ersten beiden trafen ihn am Ohr und streiften seinen Hinterkopf, dem Dritten konnte er gerade noch ausweichen, wenn auch unfreiwillig, denn Alb taumelte von Schmerz benommen einige Schritte nach vorne, dann zur Seite und schlussendlich verlor er den Halt und landete unsanft auf seinen Knien.


"Ich habe ihn! Ich habe ihn erwischt, jetzt entkommt er uns nicht!", hörte er noch begleitet vom dumpfen Pochen des Schmerzes in einem Kopf jemanden brüllen - es war Sved, dieser Faun war noch nie der Hellste und Friedvollste gewesen. War ja klar, dass dieser Mistkerl stolz auf das war, was er getan hatte!


Mit allerletzter Kraft versuchte Alb, sich wieder aufzurichten, doch seine Muskeln versagten ihm den Dienst!. Übelkeit überrollte seinen ganzen Körper und er hätte vor Wut und gleichzeitig Angst schreien können, doch es kroch nur ein heiseres Keuchen aus seiner Kehle. Sved und die anderen Verfolger Alb erreichten, ihn an Armen, Beinen und Hals packten und wie einen Mehlsack durchs Unterholz schleiften. Sie lachten und johlten wie Jäger, die fette Beute gemacht hatten!


Alb spürte warmes Blut, welche aus der Wunde seines Ohrs über seinen Hinterkopf rann. Er weinte und wollte seine Augen schließen, doch er konnte es nicht, denn wenn er schon sterben musste, wollte er wenigstens noch den Mond sehen. Ein letztes Mal wenigstens ... den Mond ... den Mond ...


Sie warfen ihn einen Bergabhang hinunter Richtung Fluß. Alb kannte diese Stelle, er war oft hier gewesen, um Gedichte zu schreiben und den Mond zu beobachten. Doch seine Gedichte waren ... Wieder überkam ihn Traurigkeit und jetzt auch Angst, denn er rollte den Bergabhang über Steine, kleine Sträucher und Mulden in der Erde, die ihm weitere Schmerzen bereiteten. Das Lachen und Grölen seiner Peiniger entfernte sich.


"HAU AB UND LASS DICH HIER NIE WIEDER BLICKEN!", hörte er sie brüllen. "SONST BRINGEN WIR DICH WIRKLICH UM!"


Habt ihr das nicht schon getan?! Das war der letzte Gedanke, den Alb noch fassen konnte, und bevor er mit seinem drahtigen, mageren Körper im kalten Wasser des Flusses landete, war er schon ohne Bewusstsein.



"Sved, bist du sicher, dass es eine gute Idee war, ihn leben zu lassen?"

Sved zuckte mit den Achseln. "Er ist jetzt auf der anderen Seite des Flusses und hoffentlich weit weg genug. Wollte ja nicht wirklich das Dorf verlassen, der kleine Dämon."

"Aber wenn er noch lebt, wieder einschläft, und ..."


"Knev", seufzte Sved und wandte sich auch den anderen zu, die teilweise grinsten und stolz darauf waren, den "Weißen Dämon" endlich losgeworden zu sein. Jedoch waren sie sich auch unsicher, ob es richtig war, was sie getan hatten und Sved versicherte ihnen:) "Glaubt es mir. Er ist weit genug weg. Und wenn er dem Tempel auch fernbleibt, können wir wieder alle beruhigt schlafen gehen."


"Aber Sved", keuchte Knev und lief neben seinem Kumpel, der sich bereits wieder auf dem Rückweg befand, her. "Was, wenn sie doch noch da sind, obwohl Alb nicht mehr im Dorf ist?"

Sved schnaubte verächtlich. "Dann gehen wir eben wieder auf die Jagd und bringen es zu Ende. Tote Dämonen können keinen Schaden anrichten."




2

Die Worte, die sie ihm hinterher gebrüllt hatten, hallten immer noch in seinen Ohren wider ... und drangen in seinen Kopf, der halb im eiskalten Wasser lag. Albs Körper ruhte für einige Momente im Wasser, bis die Strömung ihn erfasste und weiter den Fluss entlang trug. Dabei wurde der magere Körper des weißen Fauns herumgewirbelt, sodass sein Gesicht manchmal unter Wasser, dann wieder an der Oberfläche war. Doch all das bekam Alb nicht mit - er war ohne Bewusstsein und trieb einen schmalen, aber schnell fließenden Fluss immer schneller auf einen rauschenden Wasserfall zu.


Das Licht des Mondes schimmerte auf der Oberfläche des Wassers und verwandelte es in ein Spiel aus weißen, blauen und leicht violetten Farben, die auf sein schneeweißes Fell reflektierten.


Der Mond flüsterte etwas in seinen Gedanken, die zwischen Wach- und Traumzustand umherwanderten . Es war, als stünde er in einer halb geöffneten Tür, durch die gerade so viel Licht in einen ansonsten von tiefer Dunkelheit erfüllten Raum drang, um wage Konturen zu erkennen ... und diese wagen Konturen bewegten sich und hatten die Umrisse von humanoiden, aufrecht gehenden Wesen, die sich langsam, sehr langsam auf ihn zubewegten. Alb überkam Angst ... und diese Angst fühlte sich kalt und lähmend an ...


Mach deine Augen auf ... was war das für eine Stimme? Sie klang weich, gütig, fremd und vertraut zugleich ... die Gestalten aus der Finsternis, sie schienen selbst nur als Schwärze zu bestehen, und ihre Umrisse sahen wie sehr fein gezogene Linien aus Kreide aus. Sie bewegten sich auf Alb zu ...


Ich darf nicht einschlafen ... ich darf nicht träumen ... sie bringen mich sonst um ...

Alb lag mit dem Rücken auf der Wasseroberfläche und schien regelrecht zu schweben. Seine halboffenen Augen - er sah den Mond am Himmel, doch gleichzeitig den dunklen Raum mit den dunklen Gestalten aus fein gezeichneten Kreidelinien. Der Mond wurde plötzlich plötzlich von einem riesigen Geschöpf verdeckt, welches sehr schwer, groß und ungetüm aussah, sich jedoch auf sehr langen, dünnen Beinen anmutig und scheinbar leichtfüßig zu bewegen schien.

Der Tempel ... ich sehe den Tempel des Wächters des Mondes ... oder ist es ein Traum?

"Reiche mir deine Hand, schnell!"


Alb vernahm zwar den Klang der Worte, der sich sehr aufgeregt anhörte, jedoch fand er nicht die Kraft, seine Arme zu heben, geschweige denn, irgendetwas oder jemanden zu greifen. Durch seine müden Augen sah er von einem Schleier der Benommenheit verdeckt zwei große, dunkelblaue Augen in einem zarten, anmutigen Gesicht, welches von blauem Haar und zwei riesigen Ohren umspielt wurde.


Aus dem halboffenen, dunklen Raum packte ihn eine der Gestalten am Arm und zerrte daran.

"Der Mond", flüsterte Alb und Tränen stiegen in ihm hoch. "Bitte, hilf mir ..."



Mune hockte auf der Schnabelspitze des Tempels, welcher seinen Kopf weit nach unten beugte und dabei beinahe die Oberfläche des Wassers berührte. Der magere, sehr zerbrechlich aussehende Körper des weißen Fauns schwebte praktisch auf dem Wasser – die weißen Mondseide-Spinnen konnten gerade noch rechtzeitig die Strömung des Wasserfalls so weit verlangsamen, dass der weiße Faun nicht in die Tiefe stürzte.


Sie spannen feine Stränge aus Mondseide vom Bauch des Tempels zu den Felsen, die rechts und links nebemndem Wasserfall herausragten und sprangen auf der Seide unermüdlich auf und ab, sodass durch die Vibration nicht nur eine schöne, beruhigende Melodie, sondern auch ein Kraftfeld erzeugt wurde, welches den Fluss des Wassers regelrecht einfror.


Mune beugte sich so weit er konnte nach vorne. "Reiche mir deine Hand, schnell!", rief er dem weißen Faun abermals zu, denn ein Gefühl sagte ihm, dass die Mondseide nicht lange halten würde. Und dann würde er vielleicht niemals erfahren, warum dieser geheimnisvolle, weiße Artgenosse, der ihn schon seit Nächten durch seine Träume verfolgte, ausgerechnet hier im Fluss lag.


Es schien nichts zu nützen - Mune spürte, dass der weiße Faun in einer Zwischenwelt zwischen Traum und Wachzustand gefangen war. Die rote Stelle an seinem Kopf wies auf eine Verletzung hin. Wenn der weiße Faun ein Traumwandler war, wovon Mune ausging, dann konnte eine Verletzung an seinem Kopf ihn in eine Art Dämmerzustand versetzt haben. Das hieß im Klartext: Dieser Faun konnte gerade Traum und Realität nicht unterscheiden.

"Dann eben auf die altmodische Art und Weise."


Mune klammerte sich mit seinen langen, dünnen Beinen um die Spitze des riesigen Schnabels seines Tempels, hing kopfüber herunter direkt vor dem Gesicht des weißen Fauns.

"Du hast nur einen bösen Traum", sagte Mune und rieb das dunklere Fell seiner Unterarme aneinander. "Und die vertreibe ich dir jetzt. Denke an was Schönes, denke an den, den du liebst. Er ist jetzt bei dir."


***


Die dunkle Gestalt, die eben noch Albs Arm festhielt, ließ abrupt los und kreischte wie ein erschrockenes Tier, das man mit Feuer vertreiben wollte. Alb sah den anderen Faun mit seinen großen, gütigen Augen und blaue und violette Funken, die schimmernd und glitzernd auf ihn herabregneten.


Denke an was Schönes, denke an den, den du liebst. Er ist jetzt bei dir.

"Bei mir", flüsterte Alb und lächelte. Mit einem Male wich die Kälte der Dunkelheit von ihm, die Tür zu dem finsteren Raum fiel mit einem lauten Knall zu, die Wesen aus Schwärze und dünnen Kreidelinien ... sie waren verschwunden.


Rauschen von Wasser drang in Albs Ohren, genauso wie der pochende Schmerz seiner Kopfwunde. Sein fand wieder seine Kraft - Alb streckte seine Pfote nach dem blauen Faun, der da kopfüber scheinbar in der Luft über ihm hing, packte sie und ließ sich hochziehen.

Beide, Alb und der blaue Faun, der eben noch aus dem Fell seiner Arme hatte blauen Glitzer regnen lassen, fanden auf einem langen, schmalen Felsen Halt - einen "Felsen", der in Wirklichkeit der riesige Schnabel eines noch riesigeren Geschöpfes war. Doch das nahm Alb nicht wirklich wahr; er lag keuchend auf dem Bauch, versuchte sich aufzurappeln, schaffte es aber nicht.


Er drehte seinen Kopf und sah den blauen Faun, welcher ihn scheinbar gerade gerettet hatte, in die Augen. "Wer ... bist du es ...", stammelte Alb, dann spürte er, wie die Kräfte wieder seinen Körper verließen und er abermals das Bewusstsein verlor.


Mune konnte ihn gerade noch festhalten, bevor Alb stürzte. Er strich Alb durch das schneeweiße Fell und flüsterte. "Ja, ich bin es."


Er trug ihn behutsam zum Eingang des Tempels, während die Mondseide-Spinnen ihm folgten.

Der Tempel setzte sich wieder in Bewegung, und mit ihm der Mond, den er hinter sich herzog.




3

Alb schlug die Augen auf, und das Erste, was er sah war der Nachthimmel, übersät mit unzähligen funkelnden Sternen. Die Luft war kühl, aber angenehm. Er richtete sich langsam auf und tastete mit seiner Pfote an jene Stelle an seinem Kopf, wo der Stein ihn getroffen hatte und fühlte den weichen Stoff eines Verbandes. Sein weißes Fell war sauber und trocken. Immer noch ein wenig benommen rieb er sich die Augen, dann blickte er sich um: Er lag auf einem großen Bett, das scheinbar nur aus einem hellblauen und silbern schimmernden Kissen zu bestehen schien in einem riesigen, halbrunden Raum ohne Decke - oder befand er sich unter einer Glaskuppel? Alb konnte es nicht richtig erkennen.


Vorsichtig stand er auf, um seine Umgebung weiter zu erkunden. Nach und nach kam die Erinnerung zurück: Die Flucht aus seinem Dorf, wie sie ihn durch den Wald gejagt und vertrieben haben. Wie er mit Steinen beworfen, verletzt und schließlich gerettet worden war.

"Der Hüter des Mondes", flüsterte Alb, als er sich wieder an den blauen Faun erinnerte, der ihn gerade noch rechtzeitig vor dem Ertrinken gerettet hatte. "Ich muss mich im Tempel befinden."


Immer noch auf wackligen Beinen machte er einen Schritt nach dem anderen und sah sich in dem geheimnisvollen Raum um, in dem er aufgewacht war. Der Boden war mit einem großen, halbrunden, dunkelblauen Teppich ausgelegt. An den Wänden ragten Regale aus dunklem Holz in die Höhe, welche alle prall mit Büchern gefüllt waren. In einer Nische zwischen zwei Bücherregalen konnte Alb einen Tisch erkennen, auf dem sich Teller und Schalen stapelten; in einer anderen Ecke stand ein kleines Teleskop vor einem Hocker.


Kerzenleuchter, welche überall im Raum ohne ein erkennbares Muster verteilt aufgestellt waren, gaben ein beruhigendes, silberweißes Licht pulsierend von sich.

Alb ließ den Blick in die andere Richtung schweifen und sah einen anderen Tisch, auf dem mehrere Karten und Schriftrollen lagen. Er ging darauf zu und erblickte die Zeichnung eines Planeten mit seiner Nacht- und Tagseite; zusammen mit der Sonne und dem Mond. Mit seiner Pfote strich er über die verspielt aussehende Schrift, die mit dünner Feder einzelne Länder des Planeten beschrieben.


"Geht es dir besser?", hörte er hinter sich jemanden mit freundlicher, weicher Stimme fragen.


Alb erschrak so sehr, dass er mit seiner Pfote, mit welcher er die Karte gerade anheben und im Licht der Kerzenleuchter, die zu beiden Seiten des Tisches standen, genauer betrachten wollte, auf dem galtten Papier abrutschte, hastig versuchte zu verhindern, das Papier zu zerknittern und dabei mit der Schulter gegen eine der Kerzenleuchter stieß.


Alb erschrak so sehr, dass er mit seiner Pfote – mit welcher er die Karte gerade in das Licht der neben dem Tisch stehenden Kerzenleuchter halten wollte – abrutschte und mit der Schulter gegen einen der Ständer stieß. Alles nur, weil er verhindern wollte, dass Papier nicht zu zerknittern.


"Oh nein!", kreischte Alb erschrocken mit gellender Stimme, als er den Leuchter umfallen und die kugelförmige, pulsierende Flamme des Lichtes auf den Tisch fallen sah. Vor seinem inneren Auge sah er den Kartentisch, den gesamten Raum, wenn nicht sogar den ganzen Tempel brennen und den Mond für immer untergehen! Sved und die anderen hatten recht behalten - Alb war ein Dämon!


Er sprang kreischend nach vorne und versuchte seine Pfoten zwischen die kugelförmige Flamme und das Papier zu bringen, in Erwartung, sich schmerzhaft zu verbrennen, als ...

... Alb bemerkte, dass die Kugelflamme weich und flauschig war, zwei Augen aufschlug und sechs dünne, flinke Beine hatte! Die Mondseide-Spinne blickte ihn zuerst erschrocken, dann vorwurfsvoll an, krabbelte über seinen Arm auf die Schulter und gab quickende Geräusche von sich.


Mune lachte und kam auf ihn zu. "He Kleine, sei nicht so streng zu unserem Gast. Ich glaube, er hat noch nie eine Mondseide-Spinne gesehen."


Die Spinne gab mit einem leisen Gurren zu verstehen, dass sie immer noch nicht ganz glücklich war, aber krabbelte dann von Albs Schulter auf den Tisch zurück.


Mune schob Alb sanft zur Seite, und während er den Kerzenleuchter wieder aufrichtete und die Mondseide-Spinne auf ihren Platz krabbeln ließ, sagte er: "Mein Name ist Mune, ich bin der Hüter des Mondes und heiße dich willkommen in meinem Tempel."


"Wir sind im Bauch von diesem riesigen Tier, das in der Nacht immer durch die Gegend schreitet und den Mond hinter sich her zieht?", fragte Alb aufgeregt.


Mune schnitt eine Grimasse und grinste. "Sieht so aus, oder?"


Im Schein der Mondspinnen schimmerte Munes Fell wie blaues Feuer, es hatte etwas Beruhigendes an sich; auch Munes große, dunkle Augen schienen Alb regelrecht zu hypnotisieren.


"Und wie ist dein Name? Wo kommst du her und was hast du im Fluss gesucht? Zum Fischen war es doch eindeutig zu spät."


Alb atmete tief durch und hatte Mühe, seine Stimme wieder zu finden. Irgendwie hatte dieser Ort etwas Magisches an sich - als befände er sich in einem Traum. Doch dies war kein Traum - Alb kannte den Unterschied, denn seine Träume waren alles andere als magisch, beruhigend und schön.


"Mein Name ist Alb, und ..." Er verharrte, schloss die Augen und wand sich von Mune ab. "Ich habe nach dir gesucht, um ehrlich zu sein." Alb seufzte traurig. Er hatte ihn gefunden - den Hüter des Mondes, und er war so lieb, freundlich und schön. Wie sehr hatte Alb sich danach gesehnt, ihn zu finden. Doch nun rang er mit sich selbst, ob es klug war, hier zu sein.

"Ich weiß.", hörte er Mune gelassen sagen, der dabei war, die Karte mit den Planeten zu glätten. "Woher? Eben hast du mich noch gefragt, was ich nachts alleine im Fluss mache?"

Mune lachte leise, berührte Alb an der Schulter und bedeutete, ihm zu folgen. Gemeinsam verließen sie den Raum, und Alb folgte Mune, während er ihm zuhörte.


"Ich bin kein großer, weiser Lehrmeister, der seit hundert Jahren den Mond hütet.", begann Mune. "Trotzdem klinge ich vielleicht so, wenn ich dir jetzt sage, dass jeder seinen eigenen Weg selbst sehen muss, bevor er ihn gehen kann. Als Hüter des Mondes habe ich Zugang zu bestimmten Fähigkeiten, aber wenn jene, die meine Hilfe suchen, selbst nicht wissen, was ihnen helfen könnte, kann ich ihnen nicht helfen."


"Das klingt in der Tat sehr ... schwer verständlich." sagte Alb und nickte. "Dann weißt du, was mein Problem ist?"


"Weißt du es?"


Alb nickte. "Ja, zumindest bin ich mir ziemlich sicher."


Der blaue Faun lächelte und klopfte Alb sanft auf die Schulter. "Gut. Dann werde ich versuchen, dir zu helfen."


Sie befanden sich in einem Raum, der eigentlich keiner war - es glich eher der Brücke eines Segelschiffes, denn sie waren im Freien! Alb sah, wie sie auf eine Art riesige Harfe zugingen, die aus unzähligen dünnen, im Licht des Mondes silbern schimmernden Saiten bestand. Auf diesen Saiten saßen weiß pulsierende Mondspinnen, die langsam und unermüdlich auf und ab krabbelten und dabei sanfte, beruhigende Töne erzeugten.


"Die Mondharfe", keuchte Alb fasziniert. Bisher hatte er sie nur auf Bildern gesehen, oder in Büchern, die Geschichten über die Hüter der Himmelsgestirne erzählten.


"Zu Beginn der Zeit …", begann Mune, während er mit seinen Pfoten begann, auf der Mondharfe zu spielen. "… herrschte auf unserem Planeten ewige Dunkelheit. Ein starkes Wesen fing mit einer schweren Kette einen vorbeiziehenden Stern ein, welcher unserer Welt Licht, Wärme und das Leben schenkte - die Sonne. Er war der erste Hüter der Sonne."


Albs Blick streifte über die Saiten nach oben, und er erkannte, dass die Saiten der Mondspinnen bis zum Mond selbst hochführten, der silbern leuchtend und von einem dunkelblauen Schimmer umgeben am Himmel wachte. Alb lauschte der sanften Melodie der Mondharfe und Mune's Stimme.


"Ein anderes Wesen …", fuhr Mune fort. "… stieg in das Reich der Träume und schlug aus einem Felsen den Mond und brachte ihn in unsere Welt auf dass er den wachen Wesen Licht schenkte, Ängste nahm und den Schlafenden schöne Träume bereiten sollte."


"Der Mond stammt also aus dem Reich der Träume selbst", flüsterte Alb und lächelte. All seine Sorgen und Ängste waren für den Augenblick vergessen. Am liebsten wäre er für immer einfach so dagestanden, den Mond betrachtend und Munes Stimme lauschend. Doch dann drangen wieder dunkle Gedanken in seine Seele, die seine Mundwinkel nach unten fallen und seine Glieder kalt werden ließen. Er senkte den Kopf, schloss die Augen und seufzte.


"Natürlich kenne ich die Geschichten über unsere Welt. Über die Sonne, den Mond und auch, wie du unsere Welt gerettet hast. Wie du die Wesen aus dem Reich der Alpträume besiegt hast. Deshalb habe ich mir so sehr gewünscht, es mir herbeigesehnt, dich endlich zu sehen. Aber ..." Er schüttelte langsam den Kopf. "Vielleicht ist es schon zu spät."


Mune legte seine Pfoten auf Albs Schultern. "Es ist nie zu spät. Du kennst meine Geschichte - jetzt möchte ich deine hören."


Alb nickte und streifte seine Ledertasche, die er immer noch über seinen Schultern trug, ab und holte die herausgerissene Buchseite hervor. Er strich das zerknitterte Papier glatt, und eine vom Wasser verschwommene, aber noch lesbare Schrift kam zum Vorschein.


"Na schön", sagte Alb leise, und begann seine Geschichte zu erzählen.



4

Ein Jahr zuvor ...


Sie hatten den alten Turm vor drei Tagen entdeckt. Alb war ganz schön aufgeregt gewesen, als Latara ihm von der Idee erzählte, dass sie sich in den dunklen Teil des Waldes bis zu dem Gebäude vorwagen sollten, dessen Spitze aus den Baumwipfeln ragte.


Alb war schon immer der Unsichere von ihnen gewesen: Latara, ein taffes, hübsches Faunmädchen mit tiefschwarzem Fell und hellen, grünen Augen, die immer gerne Risiken einging und ihren weißhaarigen, eher ängstlichen Freund an die Hand nahm und in so manches Abenteuerhineinzog.


Wie gesagt: Schon immer war Alb unsicher, ängstlich und hatte wenig Selbstbewusstsein. Aber mit Latara an seiner Seite fühlte er sich stets sicher. Er war sehr glücklich, sie als Freundin gefunden zu haben, denn wie er war auch Latara eine Außenseiterin. Weniger wegen ihres Aussehens, so wie es bei Alb der Fall war, sondern weil Latara so gar nicht "mädchenhaft" war. Gerade die Weibchen unter den Faunen hatten ruhig, zurückhaltend und still zu sein. In der Öffentlichkeit sah man immer nur die Männchen auftreten; egal ob als Hüter, als Gelehrte oder Anführer.


So hatten sich die beiden irgendwie gesucht und gefunden, und wenn der ganze Stamm tief und fest schlief, waren Alb und Latara unterwegs. Sie nannten das "Traumwandeln", denn Alb hatte die Fähigkeit, andere Wesen in ihren Träumen zu besuchen und mit ihnen den Traum so zu gestalten, wie sie es wollten. Mal zogen sie mit riesigen Urzeit-Monstern durch die Gegend, ein anderes Mal waren sie im Weltraum und konnten ihren Planeten aus weiter Ferne sehen.


Zum ersten Mal jedoch entdeckten sie etwas in der realen Welt, wovon sie bisher nur geträumt hatten.


"Der Turm", keuchte Alb und schüttelte den Kopf. Noch immer konnte er nicht glauben, was er da sah. "Er ist wirklich da."


Sie befanden sich in der "Dämmerzone" zwischen Tag und Nacht: Auf der rechten Seite zog der Sonnentempel seine Bahn und erhellte das Land unter sich. Auf der linken Seite war die Nacht, und an ihrem Himmelleuchtete in der Ferne der Mond. Albs Herz klopfte, denn er liebte die Nacht und auch den Mond. Mune war gerade vor zehn Tagen zum neuen Hüter des Mondes erkoren worden – jeder im Stamm kannte die Geschichte von Mune und wie er den Mond vor Nekros gerettet hatte. Leider kannte Alb Mune nicht persönlich, er hatte ihn nur ein paarmal flüchtig gesehen. Jetzt, wo er der Hüter des Mondes war, war der blaue Faun so gut wie unerreichbar; zumindest fühlte es sich so an.


Lataras Lachen holte Alb aus seinen Gedanken wieder in die Realität zurück.


"Natürlich ist er da. He – was ist, wenn wir Dinge, die wir im Traum erschaffen, auch in der realen Welt erscheinen lassen können?"


Alb lächelte und schüttelte den Kopf. Latara hatte manchmal so schnelle Gedankenübergänge. Oft sagte sie drei verschiedene Dinge in einem Satz. "Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Entweder es ist ein reiner Zufall, oder einer von uns hat den Turm mal gesehen und erinnert sich nur im Traum noch daran."


"Quatsch!" Latara schnitt eine Grimasse. "Wir sind doch schon so oft in der Dämmerzone gewesen. Ist dir da jemals dieses Ding aufgefallen? Nee, glaub' mir, der war vorher noch nicht da."


Latara rannte auf das Dickicht zu und lachte. "Los, wer als Letzter am Turmist,muss als erster rein."


Alb grinste und setzte sich in Bewegung.


Der "Dunkle Wald" machte seinem Namen alle Ehre; die Bäume wuchsen hier besonders dicht beieinander. Immer weniger Glühwürmchen schwirrten durch die nächtliche Luft, und auch das Licht der Sonne auf der rechten Seite wurde immer schwächer. Der Turm schien sich zwar genau auf der Dämmerseite zu befinden, je näher sie ihm jedoch kamen, umso mehr dominierte die Nacht.


Suchend blickte Alb zum Himmel in der Hoffnung, den Mond zu sehen. Doch alles was er sah, waren funkelnde Sterne. "Wo ist er nur ..."


Latara, die elegant über Baumstämme und Äste kletterte, fragte: "Hast du was gesagt?"


Als seufzte. "Ach ... nichts."


Sie schoben die letzten großen Bamba-Blätter zur Seite und erblickten eine kleine Lichtung– und da stand er! Direkt vor ihnen ragte jener Turm in die Höhe, von dem sie so oft geträumt hatten. Mal war er Teil eines riesigen Schlosses gewesen, in dem sie Königin und König gespielt hatten, mal hatte er als ein Leuchtturm ihnen den Weg über ein stürmisches Meer gewiesen, auf dem sie als wilde Piraten riesige Goldschätze geraubt hatten.


Im fahlen Licht der Sterne und des fernen Mondes stand er nun vor ihnen: ein hoher, schmaler Zylinder aus grauen Steinen, genau drei ovalen Fenstern, die wie dunkle Augen ins Leere starrten und einem mit roten Ziegeln bedecktem, kegelförmigem Dach. Eine schmale Treppe ohne Geländer führte zu einem metallisch glänzenden, verschlossenen Tor.


"Das gibt es nicht", murmelte Latara. "Schau nur, sogar die Fenster sehen so aus wie im Traum. Alb, kneif mich, vielleicht sind wir ja wieder in einem Traum und wissen nicht, dass wir schlafen. Nein, wage es nicht, du wirst doch nicht ein Mädchen kneifen, oder?! Sag' mir lieber, ob wir wach sind oder träumen?!"


Sie sprach sehr schnell, und je aufgeregter Latara war, um so schneller sprach sie und um so verworrenerebenfalls: Alb wusste nicht, ob er sie jetzt kneifen sollte oder nicht ... statt dessen lachte er leise und sagte: "Latara, wir sind wach, glaube es mir. Du hast doch den Sonnen- und auch den Mondtempel gesehen, oder?"


Latara nickte. Sie sprachen miteinander, ohne dabei ihre Blicke vom Turm abzuwenden.


"Und das Vibrieren auf dem Boden gespürt, das die Bewegung der Tempel verursacht?"


Wieder ein stummes Nicken.


"Na siehst du. Die Wächter der Sonne und des Mondes sind die einzigen Wesen, die ich nicht in einem Traum erscheinen lassen oder in einen Traum ziehen kann. Sie sind also real, und somit ist auch der Turm real."


"Worauf warten wir dann noch?", sagte Latara und grinste Alb an. "Schauen wir ihn uns mal an."


Mit diesen Worten preschte sie nach vorne.


Alb lachte und wollte es ihr gleich tun, als er plötzlich wie erstarrt war. Der Turm stand mitten auf einer Lichtung. Da sie die ganze Zeit nur das seltsame Gebäude selbst im Blick hatten, hatte keiner von ihnen darauf geachtet, was sich auf dem Boden befand, oder besser gesagt, was sich da nicht befand ...


Tiefe, kalte Finsternis erstreckte sich vor ihnen. Alb konnte gerade noch Halt an einem Ast finden, Latara jedoch stürzte kreischend in die Tiefe ... Er hörte sie ihren Namen schreien und ein "Hilf mir ..." Dann verstummte sie und war von der schwarzen Tiefe verschluckt wie von einem riesigen, gierigen Maul eines Monsters.


Alb war starr vor Angst. Er klammerte sich mit seinen Pfoten an einem Baum und starrte mit geweiteten Augen in die Schwärze, die gerade Latara verschlungen hatte.


Nach einigen Herzschlägen erinnerte er sich wieder daran, zu atmen ... Seine Glieder waren eiskalt, in seinen Schläfen pochte ein eisiger Schmerz.


"Ist das ... ein Traum ...", keuchte er. "Es muss ... ein Traum sein ..."


"ES IST KEIN TRAUM", dröhnte eine tiefe Stimme durch den Wald.


Alb blickte in die Richtung, aus der die Stimme kam, und mit aufgerissenen Augen sah er ein rotes Glühen in den Fenstern des Turms. Lähmende Angst befiel ihn, denn der Turm schien ihn anzustarren. Und seine roten Augen schienen ihn böse anzugrinsen.


"BRING' MIR MEHR", dröhnte es wieder. "ICH BIN HUNGRIG!"


Laut schreiend riss sich Alb von dem Baum los und rannte schreiend und kreischend durch den Wald, schlug Äste und Blätter aus seinem Gesicht, stolperte, fiel, rappelte sich wieder auf und rannte weiter, bis er schließlich den Rand des Waldes erreicht hatte, wo sich sein Stamm befand.


Seine Lungen brannten, in seinen Augen standen Tränen, doch er konnte nicht weinen.


"Latara ...", keuchte er. Alb wagte es nicht, hinter sich zu blicken; zu schauen, ob der Turm noch da war. Er kniff sich so fest in seinen Arm, dass er sich dabei ein paar Fellhaare ausriss, rieb sich die Augen, und schließlich schlug er mit der Stirn gegen einen Baumstamm. Nein, er war wach, das war kein Traum, es war real.


Langsam drehte er sich um und wagte einen Blick ... der Turm war verschwunden, der Wald, der ihn umgeben hatte, von der Dämmerung verschluckt.


***


"Da Latara eine Außenseiterin war", erklärte Alb, während er sich an dasGeschehen vor einem Jahr erinnerte, "hat niemand nach ihr gefragt. In unserem Stamm geht man nicht sehr fürsorglich miteinander um. Naja, ich hatte beschlossen, nichts darüber zu erzählen, bis ..."


"Bis die anderen Faune begannen, Albträume zu bekommen, oder?", fragte Mune ernst.


Alb nickte. "Ja. Sie träumen ... von ihr."


Sie saßen auf großen, dunkelblauen Sitzkissen. Mune hatte Tee gekocht, der jedoch von Alb kaum angerührt wurde und nur dampfend in einem hohen Becher neben seinem Sitzkissen stand. Er roch wundervoll, doch Alb war wieder wie gelähmt vor Angst, während er sich an das Erlebnis mit dem Turm erinnerte.


Mune seufzte leise und nickte. "Ja, meine Mondspinnen haben immer sehr viel zu tun, wenn wir an eurem Dorf vorbeikommen. Nacht für Nacht muss ich für sie besonders viel auf der Harfe spielen."


"Ihre Träume quälen sie so sehr", flüsterte Alb. "dass sie sich nicht mehr trauen, einzuschlafen." Er blickte Mune traurig an. "Einige sind dabei, verrückt zu werden. Vor einigen Tagen ist die Gewalt eskaliert, als Sved und seine Kumpanen herausfanden, dass ich vor einem Jahr mit Latara auf der Dämmerseite des Waldes gewesen war – und Latara daraufhin verschwunden ist. Sie glauben, ich hätte sie umgebracht, Mune. Sie sind davon überzeugt, dass ich ein Dämon bin oder zumindest einem Dämon diene. In ihren Träumen werden sie von Latara – oder was so aussieht wie sie – gequält, verletzt, gepeinigt. Es sind so grauenvolle Träume, dass ich nicht auszusprechen wage, was in ihnen geschieht."


Mune rutsche näher zu Alb, legte seine Pfote um Albs Schulter und seine andere Pfote auf Albs Brust. "Ganz ruhig. Hier im Mondtempel bist du vor bösen Träumen sicher."


"Ich habe in einem alten Buch gelesen, dass der Hüter des Mondes besondere Fähigkeiten besitzt, was Träume angeht. Und so ... kam ich auf dich."


Erst jetzt wurde Alb die Berührung und Nähe von Mune bewusst. Er unterdrückte den Drang, sich von dem blauen Faun einfach in die Arme schließen zu lassen.


"Du hast auch diese Fähigkeiten", sagte Mune ernst. "Du kannst andere Wesen in deine Träume holen. So was ..." Er verharrte kurz, haderte mit seinen Worten, und sagte schließlich. "So was kann auch böse Wesen anlocken."


Eine schwere Stille lag plötzlich im Raum. Nur die sanften Töne der Mondharfe waren zu hören, die von den krabbelnden Mondspinnen erzeugt wurden.


"Es ist meine Schuld", flüsterte Alb und sprang auf. "Es ... es ist alles meine Schuld. Ich habe Latara in diese Träume geholt, sie Nacht für Nacht in diese fantastischen Welten entführt ... ich habe dieses furchtbare Wesen auf uns aufmerksam gemacht." Er schlug sich die Pfoten vors Gesicht und schluchzte.


"Alb", sagte Mune mit sanfter Stimme, "das war nicht deine Schuld. Traumdämonen sind wie eine Krankheit. Und für jede Krankheit gibt es auch ein Heilmittel."


Alb wischte sich die Tränen vom Gesicht und kam sich ziemlich blöd vor, dass er vor dem Wächter des Mondes wie ein kleines Kind weinte. "Du kannst mir also helfen?"


Mune schnitt eine Grimasse. "Ich bin Traumwandler, und mir hat mal jemand sogar gesagt, ich sei der mächtigste Hüter aller Zeiten."


5

"BRING' MIR MEHR", dröhnte es wieder. "ICH BIN HUNGRIG!"


Alb schreckte aus seinem Albtraum auf, tastete wie ein Blinder in der Dunkelheit, die ihn völlig umgab und stieß mit seinen Pfoten gegen etwas Weiches, Flauschiges. Ein leises Kichern gegrüßte ihn.


"Alb, du musst deine Augen schon aufmachen.", sagte eine sanfte, ihm sehr vertraute Stimme.


"Latara", rief Alb und öffnete seine Augen ein zweites mal und erblickte ...


... den blauen Faun mit den weichen, freundlichen Augen.


"Mune?" Alb bemerkte erst jetzt, dass er wirklich wach war: Die Dunkelheit war nur ein Traum in einem Traum gewesen. Er saß auf Munes Bett, lediglich seine Beine waren zugedeckt. Alb schob die dunkelblaue Decke mit den aufgestickten Sternen gänzlich zur Seite, rieb sich die Augen und wich Munes Blick aus.


Mune lächelte. "Keine Angst, das war ein -"


"Traum in einem Traum." Alb nickte. "Ja, ich weiß. Und ich bin ein lausiger Traumwandeler."


"Du hast lediglich keine Übung. Lausig wärst du, wenn du nicht mal mehr die alte Erinnerung in deinen Traum holen könntest.", erklärte Mune.


Er stand auf und bewegte sich auf die Mondharfe zu, wo die Mondspinnen unermütlich auf- und ab krabbelten und die Bewegungen des Mondes steuerten. Mune strich über drei Saiten und ließ den Tempel leicht nach Norden bewegen. Ein Blick auf die Karte verriet, dass sie sich etwa 560 Schritte von jener Stelle befanden, wo Alb und Latara den Turm gefunden hatten. Laut der Karte war da lediglich Wald, doch das hatte nichts zu bedeuten. Entweder der Turm war nur eine Traumprojektion, die es wie auch immer in die reale Welt geschafft hatte, um für den Dämon "Beute" zu fangen wie es Jäger mit Tierfallen zu längst vergessenen Zeiten getan hatten, oder der Traum war ein reales Gebäude, aber zu alt, um auf einer Karte verzeichnet worden zu sein.


Der Faunen-Wald, wo auch Munes Familie und Stamm ihre Heimat hatten, befand nicht nicht unweit dieser Stelle, und Mune selbst hatte seine Kindheit in dieser Gegend verbracht und kannte sie besser als die sprichwörtliche Westentasche. Doch nie war ihm da ein Turm aufgefallen oder ähnliche Bauwerke. Doch wie gesagt: Das hatte nichts zu bedeuten.


Es war jetzt 20 Stunden her, seit Mune beschlossen hatte, den Kurs des Tempels geringfügig zu ändern, um jene Stelle zu erreichen, die Alb ihm beschrieben hatte. Wenn er Alb helfen wollte, dann ging das nur, wenn sie gemeinsam dem Ursprung des Problems - jenem mysteriösen Turm - auf den Grund gingen. Da der Tempel sich jedoch immer nur geradeaus bewegen konnte, weil der Lauf des Mondes mit dem Lauf der Sonne synchron sein musste, damit das Gleichgewicht von Tag und Nacht im Einklang blieb, mussten sie quasi den gesamten Planeten umrunden. In dieser Zeit wollte Mune Alb in der Kunst des Traumwandelns unterrichten; ihm beibringen, wie er seine Erinnerungen an andere Träume zurückholen und kontrollieren konnte. Vielleicht war der Schlüssel zu Lataras Schicksal tief in den Träumen des schwarzen Fauns verborgen. Jedoch musste Mune feststellen, dass Alb von Angst und Unsicherheit regelrecht zerfressen war: Er versperrte sich vor seinen Ängsten, wollte sich ihnen nicht stellen. Und das hatte natürlich Einfluss auf die "Traumreise".


Alb trat zu ihm, musterte kurz - wie so oft und immer öfter in den letzten Tagen, seit sie sich kannten - Munes wunderschönes, blaues Fell. Er hatte einen sehr starken Drang, den blauen Faun fest in seine Arme zu schließen, über sein Fell und sein Haupt zu streichen und ...


Mune blickte über seine Schulter und lächelte Alb an, als hätte er dessen Gedanken gerade gehört. "Wir sind gleich da."


Alb schluckte verlegen. "Ah ... ja ..."


"Hast du Angst?"


"Wenn ich ehrlich bin, ja.", sagte Alb leise.


"Da ich nicht weiß, was uns erwartet, würde ich lügen, würde ich sagen: Du brauchst keine Angst zu haben. Aber eines kann ich dir versprechen, ich werde mit meinen Fähigkeiten, die mir der Mond verleiht, dich beschützen."


Alb verspürte eine angenehme Wärme in seinem Herzen. Munes Stimme und das was er mit dieser Stimme sagte fühlte sich wie ein angenehmer, wohliger Schauer an. Egal wie dies alles ausgehen mochte: Alb wollte immer in Munes Nähe sein. Ob dies überhaupt möglich war und ob es einem Hüter gestattet war, "Mitbewohner" in seinem Tempel zu haben, wusste Alb gar nicht. Aber er wollte zumindest diese Hoffnung nicht verwerfen. Andererseits ... was ist, wenn Mune nicht wollte? Nicht die selben Gefühle für ihn hegte wie Alb für Mune?


In diesem Moment, wo Alb jene dunkle Gedanken überkamen, spürte er ein Kälte in seinem Herzen, und die Schreie von Latara klangen in seinem Kopf, die dunkle Stimme dröhnte BRING MIR MEHR ... Eiskalte Klauen umklammerten Albs Kehle, er vermochte sich nicht mehr zu bewegen. BRING MIR MEHR, ALB! VERGISS DEN BLAUEN FAUN - ER WIRD DICH NIEMALS SO LIEBEN WIE DU IHN! ES IST NUR EINE ILLUSION - LIEBE IST EINE ILLUSION! ICH BIN REAL, ICH BIN WICHTIG! MUNE LACHT DOCH HEIMLICH ÜBER DICH ... KOMM MIT MIR IN DIE DUNKELHEIT ...


"Alb?"


Mune legte seine Pfote auf Albs Schulter und rüttelte ihn sanft. "Alb, was ist los?"


Der schwarze Faun blickte Mune erschrocken an.


"Du warst mehrere Herzschläge lang wie erstarrt.", sagte Mune.


"Ich ... was?!"


Mune legte seine Pfote auf Albs Brust. "Spüre den Herzschlag, Alb. Spüre meine Wärme. Dies ist kein Traum, es ist wirklich."


Erst jetzt bemerkte Alb, das er nicht atmete ... erschrocken holte er tief Luft und keuchte. "Ich ... ich ..."


"Hab´ keine Angst, Alb.", sagte Mune beruhigend. Er legte seine Pfote um Albs Schulter und bedeutete ihm, sich wieder hinzulegen.


"Wir sind gleich da. Leg dich hin, ich muss jemanden holen."


"Lass mich nicht alleine, Mune.", flüsterte Alb und umklammerte Munes Handgelenk. "Bitte ... ich will nicht alleine sein ..."


Mune löste sich sanft aus Albs Umklammerung, richtete sich auf und machte mit seinen Armen kreisende Bewegungen. Aus dem dunkelblauen Fell seiner Unterarme regnete funkelnder Glizter auf Alb herab. "Habe einen schönen Traum, Alb. Habe einen schönen Traum, bis ich wieder komme ..."


Der Glitzer fiel auf Albs Gesicht und der Faun spürte, wie er müde und schläfrig wurde ... der sanfte Klang der Mondharfe, Munes Stimme und der glitzernde Mondstaub, den der Hüter über ihn ausstreute, versetzten ihn in Trance ... Die Schatten wichen, die Kälte verging, die böse Stimme verstummte. Doch zu träumen vermochte er nicht - Alb fiel in einen traumlosen Schlaf.



6

Als er die Augen aufschlug, blickte Alb in ein ihm völlig fremdes Gesicht. Es war das Gesicht eines älteren, ein wenig unfreundllich drein blickenden Fauns mit dunkelblauem und schwarzen Fell. Zuerst dachte Alb, wieder in einem Traum gefangen zu sein, doch er träumte nicht.


"Er ist aufgewacht", sagte der ältere Faun und beäugte ihn misstrauisch. "Und du bist sicher, dass du das tun willst, Mune?"


"Es ist der einzige Weg, Leeyoon.", sagte Mune ernst. "Und du bist der Einzige, dem ich den Tempel und den Mond anvertrauen kann."


Alb richtete sich auf.


Mune lächelte ihn an. "Das ist Leeyoon. Es fällt ihm zwar schwer, lieb zu gucken, aber glaube mir, er ist ein guter Faun. Ihm werde ich vorrübergehend den Mondtempel überlassen, solange ich mit dir den Turm aufsuchen werde."


"Mune, mir gefällt die ganze Sache nicht", sagte Leeyoon skeptisch. "Du weißt, was beim letzen Mal passiert ist."


"Das ist was anderes", sagte Mune. "da waren noch die Schlangen-Dämonen und Nécross, die die Sonne gestohlen hatten. Außerdem sollst du ja nicht meinen Dienst komplett übernehmen, sondern nur aufpassen, dass sich niemand am Tempel und am Mond zu schaffen macht."


Leeyoon seuftzte und verschränkte die Arme. "Naja, wenn es unbedingt sein muss."


Alb stand vom Bett auf und blickte zwischen den beiden, während sie miteinader sprachen hin und her. Die Szene erinnerte an Eltern, die diskutierten, was das beste für ihr Kind sei, und Alb hatte offenbar die Rolle des Kindes.


"Bedeutet das", sagte Alb langsam. "dass DER hier den Mondtempel bewacht während wir den Turm suchen?"


"Nicht ganz", sagte Mune. "Leeyoon wird mit dem Tempel genau einmal um den Planeten seine Bahnen ziehen - schließlich darf der Mond nicht stehen bleiben. Das heißt, wir beide haben genau 20 Stunden Zeit, den Turm zu finden und den Traumdämon und wen oder was auch immer zu bekämpfen, was dir und deinem Stamm Albträume beschert."


Zwanzig Stunden? Alb erschreckte die Tatsache, mit Mune diese ganze Zeit über "alleine" zu sein, ohne Tempel, ohne Mondspinnen, ohne den Mond.


Mune zog eine Sanduhr, die fast so groß wie er selbst war, hinter einem Bücherregal hervor, das neben dem Kartentisch stand, und drehte sie um. Silbern glitzernder Sand fing sogleich an durch das Glas zu rieseln.


"Wenn diese Uhr abgelaufen ist, muss ich wieder im Tempel sein." An Leeyoon gerichtet, der immer noch skeptisch dreinblickte. "Sollte die Uhr abgelaufen und ich nicht hier sein, dann ..." Mune verharrte kurz, seuftzte und fuhr mit leiser Stimme fort: "Dann wirst du meinen Dienst übernehmen, Leeyoon."


Leeyoon und Alb starrten Mune erschrocken an.


"Aber ... das geht nicht ...", keuchte Leeyoon und zeigte zum ersten Mal eine emotionale Regung in seinen Gesichtszügen.


"Doch, das geht.", sagte Mune mit fester Stimme. "Ich kann mir keinen anderen vorstellen als dich, Leeyoon. Und der Mond ist wichtiger als ich. Als Hüter kann ich jeden als meinen Nachfolger ernennen, den ich für richtig halte."


Er klopfte gegen das Glas der Sanduhr. "Zwanzig Stunden haben wir Zeit. Ich vertraue dir hiermit den Tempel und den Mond an."


Leeyoon nickte. "Gut. Du kannst dich auf mich verlasen. Viel Glück, Mune." An Alb gewandt sagte Leeyoon: "Dir auch, Alb."


Dann verließen Mune und Alb den Tempel. Kühles, feuchtes Gras unter den Füßen, mit kleinen Ledertaschen, einer Karte und einer kleinen Sonnenuhr ausgestattet standen die beiden Faune in einer Schneise, die quer durch den Wald führte direkt vor dem dichten Unterholz des Waldes der "Nachtwesen" und blickten dem sich entfernenden Tempel und Mond nach. Es würde noch etwa 2 Stunden lang dunkel sein, bevor der Sonnentempel eintreffen und den Tag einläuten würde.


Fortsetzung folgt