PLANET BAAB
3D Computer Graphic Art by Kip Supernova
TRAUMDÄMON
Mune
Fanfiction von Kip Supernova 2021
Ich wandere durch die
Dunkelheit, und suche den Weg zum
Licht. Von Stille eingehüllt
und Einsamkeit, finde ich den Pfad zu
dir einfach nicht. Kapitel
1 Er war an der Grenze zwischen Tag und
Nacht, die Dämmerung hatte ihm immer Schutz gegeben. Jedenfalls
bis jetzt, denn sie hatten ihn und sein Geheimnis entdeckt. Albs
Lungen brannten wie Feuer, sein Atmen rasselte und in seinen Augen
standen Tränen. Tränen der Verzweiflung, aber auch Tränen
des Schmerzes, denn er war wahrlich kein sehr sportlicher Faun und
die Flucht durch den Wald, über unwegsames Gelände, Bäume
und Flüsse, setzte ihm ziemlich zu. Als Faun war Alb zwar sehr schlank und
wendig, aber er hatte nicht sehr viel Ausdauer. Und jene, die ihn
gerade jagten, ihm böse, wutentbrannte Wörter hinterher
brüllten, waren nicht nur fitter und stärker als er, nein:
Sie waren auch bewaffnet! "Da vorne ist er!", hörte
Alb einen von ihnen rufen, und im nächsten Moment flog auch
schon ein Stein nur knapp an seinem linken Ohr vorbei. Er zuckte vor
Schreck zusammen, blickte sich kurz um und dann krabbelte er wie eine
Spinne den Stamm eines großen, alten Baumes hoch bis zum ersten
Ast, hielt verzweifelt Ausschau, blickte in die Ferne. Der Tempel ...
er musste doch da irgendwo sein. Schließlich befand er sich
bereits auf der Nachtseite des Planeten. Doch nichts war zu sehen,
nicht einmal der Mond ... Ich muss weiter ... Alb suchte Schutz
in den großen, breiten Bamba-Blättern, die am Fuße
der Bäume herausragten - gerade noch rechtzeitig, denn seine
Verfolger hatten ihn gesehen, wie er auf dem Baum war! Doch jetzt
nicht mehr, denn Albs Fellfarbe half ihm hier ausnahmsweise mal
dabei, seine Gesundheit - wenn nicht sogar sein Leben - zu schützen!
Denn die Bamba-Blätter hatten bei Nacht eine hellgraue Farbe.
Albs Fell war schneeweiß, jedoch verschmolz er optisch mit den
Blättern zu einem Gebilde, das für einen Betrachter auf dem
ersten Blick wie ein Gemisch aus Licht - Albs Fell - und Schatten -
die Blätter - aussehen mochte.
Seine Verfolger rannten an ihm vorbei;
Alb hockte mit angehaltenem Atem unter einem der Blätter und
blickte wie erstarrt auf die Füße, die nur knapp vor
seiner Nase auf den weichen Waldboden auftraten und im nächsten
Moment sich immer weiter entfernten . Sie hatten ihn nicht gesehen! Alb wartete noch einige Herzschläge
lang und horchte auf die sich stetig entfernenden Schritte und
Stimmen seiner Verfolger, bis er sich sicher war, dass sie sich außer
Hörweite befanden und er sich erleichtert traute aufzuatmen. Er
legte den Kopf auf den weichen Waldboden, schloss die Augen und ließ
es zu, dass ihm Tränen der Trauer und Angst aus den Augenwinkeln
über seine behaarten Wangen rollten. Ein leises Schluchzen war
in dem ansonsten sehr ruhigen und friedlichen Wald zu hören,
doch außer ein paar Vögeln und Leuchtschmetterlingen hörte
niemand Alb weinen. Nach einer Weile rappelte sich Alb
langsam auf, wischte sich kleine, vertrocknete Blätter und
Erdkrümel aus seinem Fell und seufzte. Er stand inmitten eines
wunderschönen Waldes, einer wunderschönen Nacht, erhellt
von leuchtenden Pflanzen und Insekten und war gefühlt am Ende
seines Lebens. Wie oft hatte er davon geträumt, diesen Wald zu
sehen, unter seinen Füßen den weichen, feuchten Boden zu
spüren, den Duft von Laub und Nadeln in der Nase zu haben und
seine Klänge in seinen großen Ohren vibrieren zu lassen. Doch Alb wurde gejagt, gehasst,
bespuckt und mit Steinen beworfen - von einem auf den anderen Tag.
Nur mit knapper Not war er dem Tod entkommen, dem ihm sein eigenes
Volk zusetzen wollte! Mit gesenktem Kopf trottete er durch
das Unterholz weiter Richtung Norden, wo angeblich der Tempel des
Mondwächters seine Bahnen ziehen sollte. Das hatte Alb zumindest
mal gelesen in den verbotenen Büchern.
Er griff mit seiner Pfote in die
Ledertasche, die er um seine Schultern trug und holte die aus einem
Buch herausgerissene Seite hervor und betrachtete die Karte. "Zwischen Tag und Nacht, Mond und
Sonne, Licht und Finsternis zieht der Tempel des Mondwächters
seinen Bahnen", flüsterte Alb die Worte, die mit einer
verschnörkelten Schrift über der Karte standen. "Der
Nordstern weist den Weg, wenn er am hellsten am Himmel steht." Alb blickte zum Himmel, und
tatsächlich: Der Nordstern war flackernd zu sehen und schien wie
eine Laterne in der Nacht den Weg weisen zu wollen. Er faltete die
Buchseite wieder zusammen und verwahrte sie sorgsam wie einen
Goldschatz in seiner Tasche. Dann wischte er sich mit dem
Pfotenrücken seine Tränen aus dem Gesicht, atmete tief
durch und sagte entschlossen: "Weiter geht´s, nicht aufgeb
-" Im nächsten Moment schoss ihm ein
beißender Schmerz durch den Schädel; er taumelte und war
kurz taub; einen Herzschlag später spürte er einen zweiten
Schlag. Insgesamt flogen ihm drei große Steine von der Seite
entgegen. Die ersten beiden trafen ihn am Ohr und streiften seinen
Hinterkopf, dem Dritten konnte er gerade noch ausweichen, wenn auch
unfreiwillig, denn Alb taumelte von Schmerz benommen einige Schritte
nach vorne, dann zur Seite und schlussendlich verlor er den Halt und
landete unsanft auf seinen Knien. "Ich habe ihn! Ich habe ihn
erwischt, jetzt entkommt er uns nicht!", hörte er noch
begleitet vom dumpfen Pochen des Schmerzes in einem Kopf jemanden
brüllen - es war Sved, dieser Faun war noch nie der Hellste und
Friedvollste gewesen. War ja klar, dass dieser Mistkerl stolz auf das
war, was er getan hatte!
Mit allerletzter Kraft versuchte Alb,
sich wieder aufzurichten, doch seine Muskeln versagten ihm den
Dienst!. Übelkeit überrollte seinen ganzen Körper und
er hätte vor Wut und gleichzeitig Angst schreien können,
doch es kroch nur ein heiseres Keuchen aus seiner Kehle. Sved und
die anderen Verfolger Alb erreichten, ihn an Armen, Beinen und Hals
packten und wie einen Mehlsack durchs Unterholz schleiften. Sie
lachten und johlten wie Jäger, die fette Beute gemacht hatten! Alb spürte warmes Blut, welche aus
der Wunde seines Ohrs über seinen Hinterkopf rann. Er weinte und
wollte seine Augen schließen, doch er konnte es nicht, denn
wenn er schon sterben musste, wollte er wenigstens noch den Mond
sehen. Ein letztes Mal wenigstens ... den Mond ... den Mond ... Sie warfen ihn einen Bergabhang
hinunter Richtung Fluß. Alb kannte diese Stelle, er war oft
hier gewesen, um Gedichte zu schreiben und den Mond zu beobachten.
Doch seine Gedichte waren ... Wieder überkam ihn Traurigkeit und
jetzt auch Angst, denn er rollte den Bergabhang über Steine,
kleine Sträucher und Mulden in der Erde, die ihm weitere
Schmerzen bereiteten. Das Lachen und Grölen seiner Peiniger
entfernte sich. "HAU AB UND LASS DICH HIER NIE
WIEDER BLICKEN!", hörte er sie brüllen. "SONST
BRINGEN WIR DICH WIRKLICH UM!" Habt ihr das nicht schon getan?! Das
war der letzte Gedanke, den Alb noch fassen konnte, und bevor er mit
seinem drahtigen, mageren Körper im kalten Wasser des Flusses
landete, war er schon ohne Bewusstsein. "Sved, bist du sicher, dass es
eine gute Idee war, ihn leben zu lassen?" Sved zuckte mit den Achseln. "Er
ist jetzt auf der anderen Seite des Flusses und hoffentlich weit weg
genug. Wollte ja nicht wirklich das Dorf verlassen, der kleine
Dämon." "Aber wenn er noch lebt, wieder
einschläft, und ..." "Knev", seufzte Sved und
wandte sich auch den anderen zu, die teilweise grinsten und stolz
darauf waren, den "Weißen Dämon" endlich
losgeworden zu sein. Jedoch waren sie sich auch unsicher, ob es
richtig war, was sie getan hatten und Sved versicherte ihnen:)
"Glaubt es mir. Er ist weit genug weg. Und wenn er dem Tempel
auch fernbleibt, können wir wieder alle beruhigt schlafen
gehen." "Aber Sved", keuchte Knev und
lief neben seinem Kumpel, der sich bereits wieder auf dem Rückweg
befand, her. "Was, wenn sie doch noch da sind, obwohl Alb nicht
mehr im Dorf ist?" Sved schnaubte verächtlich. "Dann
gehen wir eben wieder auf die Jagd und bringen es zu Ende. Tote
Dämonen können keinen Schaden anrichten." Kapitel
2 Die Worte, die sie ihm hinterher
gebrüllt hatten, hallten immer noch in seinen Ohren wider ...
und drangen in seinen Kopf, der halb im eiskalten Wasser lag. Albs
Körper ruhte für einige Momente im Wasser, bis die Strömung
ihn erfasste und weiter den Fluss entlang trug. Dabei wurde der
magere Körper des weißen Fauns herumgewirbelt, sodass sein
Gesicht manchmal unter Wasser, dann wieder an der Oberfläche
war. Doch all das bekam Alb nicht mit - er war ohne Bewusstsein und
trieb einen schmalen, aber schnell fließenden Fluss immer
schneller auf einen rauschenden Wasserfall zu. Das Licht des Mondes schimmerte auf der
Oberfläche des Wassers und verwandelte es in ein Spiel aus
weißen, blauen und leicht violetten Farben, die auf sein
schneeweißes Fell reflektierten. Der Mond flüsterte etwas in seinen
Gedanken, die zwischen Wach- und Traumzustand umherwanderten . Es
war, als stünde er in einer halb geöffneten Tür, durch
die gerade so viel Licht in einen ansonsten von tiefer Dunkelheit
erfüllten Raum drang, um wage Konturen zu erkennen ... und diese
wagen Konturen bewegten sich und hatten die Umrisse von humanoiden,
aufrecht gehenden Wesen, die sich langsam, sehr langsam auf ihn
zubewegten. Alb überkam Angst ... und diese Angst fühlte
sich kalt und lähmend an ... Mach deine Augen auf ... was war das
für eine Stimme? Sie klang weich, gütig, fremd und vertraut
zugleich ... die Gestalten aus der Finsternis, sie schienen selbst
nur als Schwärze zu bestehen, und ihre Umrisse sahen wie sehr
fein gezogene Linien aus Kreide aus. Sie bewegten sich auf Alb zu ... Ich darf nicht einschlafen ... ich darf
nicht träumen ... sie bringen mich sonst um ... Alb lag mit dem Rücken auf der
Wasseroberfläche und schien regelrecht zu schweben. Seine
halboffenen Augen - er sah den Mond am Himmel, doch gleichzeitig den
dunklen Raum mit den dunklen Gestalten aus fein gezeichneten
Kreidelinien. Der Mond wurde plötzlich plötzlich von
einem riesigen Geschöpf verdeckt, welches sehr schwer, groß
und ungetüm aussah, sich jedoch auf sehr langen, dünnen
Beinen anmutig und scheinbar leichtfüßig zu bewegen
schien. Der Tempel ... ich sehe den Tempel des
Wächters des Mondes ... oder ist es ein Traum? "Reiche mir deine Hand, schnell!" Alb vernahm zwar den Klang der Worte,
der sich sehr aufgeregt anhörte, jedoch fand er nicht die Kraft,
seine Arme zu heben, geschweige denn, irgendetwas oder jemanden zu
greifen. Durch seine müden Augen sah er von einem Schleier der
Benommenheit verdeckt zwei große, dunkelblaue Augen in einem
zarten, anmutigen Gesicht, welches von blauem Haar und zwei riesigen
Ohren umspielt wurde.
Aus dem halboffenen, dunklen Raum
packte ihn eine der Gestalten am Arm und zerrte daran. "Der Mond", flüsterte
Alb und Tränen stiegen in ihm hoch. "Bitte, hilf mir ..." Mune hockte auf der Schnabelspitze des
Tempels, welcher seinen Kopf weit nach unten beugte und dabei beinahe
die Oberfläche des Wassers berührte. Der magere, sehr
zerbrechlich aussehende Körper des weißen Fauns schwebte
praktisch auf dem Wasser – die weißen Mondseide-Spinnen
konnten gerade noch rechtzeitig die Strömung des Wasserfalls so
weit verlangsamen, dass der weiße Faun nicht in die Tiefe
stürzte.
Sie spannen feine Stränge aus
Mondseide vom Bauch des Tempels zu den Felsen, die rechts und links
nebemndem Wasserfall herausragten und sprangen auf der Seide
unermüdlich auf und ab, sodass durch die Vibration nicht nur
eine schöne, beruhigende Melodie, sondern auch ein Kraftfeld
erzeugt wurde, welches den Fluss des Wassers regelrecht einfror. Mune beugte sich so weit er konnte nach
vorne. "Reiche mir deine Hand, schnell!", rief er dem
weißen Faun abermals zu, denn ein Gefühl sagte ihm, dass
die Mondseide nicht lange halten würde. Und dann würde er
vielleicht niemals erfahren, warum dieser geheimnisvolle, weiße
Artgenosse, der ihn schon seit Nächten durch seine Träume
verfolgte, ausgerechnet hier im Fluss lag. Es schien nichts zu nützen - Mune
spürte, dass der weiße Faun in einer Zwischenwelt zwischen
Traum und Wachzustand gefangen war. Die rote Stelle an seinem Kopf
wies auf eine Verletzung hin. Wenn der weiße Faun ein
Traumwandler war, wovon Mune ausging, dann konnte eine Verletzung an
seinem Kopf ihn in eine Art Dämmerzustand versetzt haben. Das
hieß im Klartext: Dieser Faun konnte gerade Traum und Realität
nicht unterscheiden.
"Dann eben auf die altmodische Art
und Weise." Mune klammerte sich mit seinen langen,
dünnen Beinen um die Spitze des riesigen Schnabels seines
Tempels, hing kopfüber herunter direkt vor dem Gesicht des
weißen Fauns.
"Du hast nur einen bösen
Traum", sagte Mune und rieb das dunklere Fell seiner Unterarme
aneinander. "Und die vertreibe ich dir jetzt. Denke an was
Schönes, denke an den, den du liebst. Er ist jetzt bei dir." *** Die dunkle Gestalt, die eben noch Albs
Arm festhielt, ließ abrupt los und kreischte wie ein
erschrockenes Tier, das man mit Feuer vertreiben wollte. Alb sah den
anderen Faun mit seinen großen, gütigen Augen und blaue
und violette Funken, die schimmernd und glitzernd auf ihn
herabregneten. Denke an was Schönes, denke an
den, den du liebst. Er ist jetzt bei dir. "Bei mir", flüsterte Alb
und lächelte. Mit einem Male wich die Kälte der Dunkelheit
von ihm, die Tür zu dem finsteren Raum fiel mit einem lauten
Knall zu, die Wesen aus Schwärze und dünnen Kreidelinien
... sie waren verschwunden.
Rauschen von Wasser drang in Albs
Ohren, genauso wie der pochende Schmerz seiner Kopfwunde. Sein fand
wieder seine Kraft - Alb streckte seine Pfote nach dem blauen Faun,
der da kopfüber scheinbar in der Luft über ihm hing, packte
sie und ließ sich hochziehen. Beide, Alb und der blaue Faun, der eben
noch aus dem Fell seiner Arme hatte blauen Glitzer regnen lassen,
fanden auf einem langen, schmalen Felsen Halt - einen "Felsen",
der in Wirklichkeit der riesige Schnabel eines noch riesigeren
Geschöpfes war. Doch das nahm Alb nicht wirklich wahr; er lag
keuchend auf dem Bauch, versuchte sich aufzurappeln, schaffte es aber
nicht. Er drehte seinen Kopf und sah den
blauen Faun, welcher ihn scheinbar gerade gerettet hatte, in die
Augen. "Wer ... bist du es ...", stammelte Alb, dann spürte
er, wie die Kräfte wieder seinen Körper verließen und
er abermals das Bewusstsein verlor.
Mune konnte ihn gerade noch festhalten,
bevor Alb stürzte. Er strich Alb durch das schneeweiße
Fell und flüsterte. "Ja, ich bin es." Er trug ihn behutsam zum Eingang des
Tempels, während die Mondseide-Spinnen ihm folgten. Der Tempel setzte sich wieder in
Bewegung, und mit ihm der Mond, den er hinter sich herzog. Kapitel
3 Alb schlug die Augen auf, und das
Erste, was er sah war der Nachthimmel, übersät mit
unzähligen funkelnden Sternen. Die Luft war kühl, aber
angenehm. Er richtete sich langsam auf und tastete mit seiner Pfote
an jene Stelle an seinem Kopf, wo der Stein ihn getroffen hatte und
fühlte den weichen Stoff eines Verbandes. Sein weißes Fell
war sauber und trocken. Immer noch ein wenig benommen rieb er sich
die Augen, dann blickte er sich um: Er lag auf einem großen
Bett, das scheinbar nur aus einem hellblauen und silbern schimmernden
Kissen zu bestehen schien in einem riesigen, halbrunden Raum ohne
Decke - oder befand er sich unter einer Glaskuppel? Alb konnte es
nicht richtig erkennen. Vorsichtig stand er auf, um seine
Umgebung weiter zu erkunden. Nach und nach kam die Erinnerung zurück:
Die Flucht aus seinem Dorf, wie sie ihn durch den Wald gejagt und
vertrieben haben. Wie er mit Steinen beworfen, verletzt und
schließlich gerettet worden war. "Der Hüter des Mondes",
flüsterte Alb, als er sich wieder an den blauen Faun erinnerte,
der ihn gerade noch rechtzeitig vor dem Ertrinken gerettet hatte.
"Ich muss mich im Tempel befinden." Immer noch auf wackligen Beinen machte
er einen Schritt nach dem anderen und sah sich in dem geheimnisvollen
Raum um, in dem er aufgewacht war. Der Boden war mit einem großen,
halbrunden, dunkelblauen Teppich ausgelegt. An den Wänden ragten
Regale aus dunklem Holz in die Höhe, welche alle prall mit
Büchern gefüllt waren. In einer Nische zwischen zwei
Bücherregalen konnte Alb einen Tisch erkennen, auf dem sich
Teller und Schalen stapelten; in einer anderen Ecke stand ein kleines
Teleskop vor einem Hocker.
Kerzenleuchter, welche überall im
Raum ohne ein erkennbares Muster verteilt aufgestellt waren, gaben
ein beruhigendes, silberweißes Licht pulsierend von sich. Alb ließ den Blick in die andere
Richtung schweifen und sah einen anderen Tisch, auf dem mehrere
Karten und Schriftrollen lagen. Er ging darauf zu und erblickte die
Zeichnung eines Planeten mit seiner Nacht- und Tagseite; zusammen mit
der Sonne und dem Mond. Mit seiner Pfote strich er über die
verspielt aussehende Schrift, die mit dünner Feder einzelne
Länder des Planeten beschrieben. "Geht es dir besser?", hörte
er hinter sich jemanden mit freundlicher, weicher Stimme fragen. Alb erschrak so sehr, dass er mit
seiner Pfote, mit welcher er die Karte gerade anheben und im Licht
der Kerzenleuchter, die zu beiden Seiten des Tisches standen, genauer
betrachten wollte, auf dem galtten Papier abrutschte, hastig
versuchte zu verhindern, das Papier zu zerknittern und dabei mit der
Schulter gegen eine der Kerzenleuchter stieß.
Alb erschrak so sehr, dass er mit
seiner Pfote – mit welcher er die Karte gerade in das Licht der
neben dem Tisch stehenden Kerzenleuchter halten wollte –
abrutschte und mit der Schulter gegen einen der Ständer stieß.
Alles nur, weil er verhindern wollte, dass Papier nicht zu
zerknittern. "Oh nein!", kreischte Alb
erschrocken mit gellender Stimme, als er den Leuchter umfallen und
die kugelförmige, pulsierende Flamme des Lichtes auf den Tisch
fallen sah. Vor seinem inneren Auge sah er den Kartentisch, den
gesamten Raum, wenn nicht sogar den ganzen Tempel brennen und den
Mond für immer untergehen! Sved und die anderen hatten recht
behalten - Alb war ein Dämon! Er sprang kreischend nach vorne und
versuchte seine Pfoten zwischen die kugelförmige Flamme und das
Papier zu bringen, in Erwartung, sich schmerzhaft zu verbrennen, als
... ... Alb bemerkte, dass die Kugelflamme
weich und flauschig war, zwei Augen aufschlug und sechs dünne,
flinke Beine hatte! Die Mondseide-Spinne blickte ihn zuerst
erschrocken, dann vorwurfsvoll an, krabbelte über seinen Arm auf
die Schulter und gab quickende Geräusche von sich. Mune lachte und kam auf ihn zu. "He
Kleine, sei nicht so streng zu unserem Gast. Ich glaube, er hat noch
nie eine Mondseide-Spinne gesehen." Die Spinne gab mit einem leisen Gurren
zu verstehen, dass sie immer noch nicht ganz glücklich war, aber
krabbelte dann von Albs Schulter auf den Tisch zurück. Mune schob Alb sanft zur Seite, und
während er den Kerzenleuchter wieder aufrichtete und die
Mondseide-Spinne auf ihren Platz krabbeln ließ, sagte er: "Mein
Name ist Mune, ich bin der Hüter des Mondes und heiße dich
willkommen in meinem Tempel." "Wir sind im Bauch von diesem
riesigen Tier, das in der Nacht immer durch die Gegend schreitet und
den Mond hinter sich her zieht?", fragte Alb aufgeregt. Mune schnitt eine Grimasse und grinste.
"Sieht so aus, oder?" Im Schein der Mondspinnen schimmerte
Munes Fell wie blaues Feuer, es hatte etwas Beruhigendes an sich;
auch Munes große, dunkle Augen schienen Alb regelrecht zu
hypnotisieren.
"Und wie ist dein Name? Wo kommst
du her und was hast du im Fluss gesucht? Zum Fischen war es doch
eindeutig zu spät." Alb atmete tief durch und hatte Mühe,
seine Stimme wieder zu finden. Irgendwie hatte dieser Ort etwas
Magisches an sich - als befände er sich in einem Traum. Doch
dies war kein Traum - Alb kannte den Unterschied, denn seine Träume
waren alles andere als magisch, beruhigend und schön. "Mein Name ist Alb, und ..."
Er verharrte, schloss die Augen und wand sich von Mune ab. "Ich
habe nach dir gesucht, um ehrlich zu sein." Alb seufzte traurig.
Er hatte ihn gefunden - den Hüter des Mondes, und er war so
lieb, freundlich und schön. Wie sehr hatte Alb sich danach
gesehnt, ihn zu finden. Doch nun rang er mit sich selbst, ob es klug
war, hier zu sein.
"Ich weiß.", hörte
er Mune gelassen sagen, der dabei war, die Karte mit den Planeten zu
glätten. "Woher? Eben hast du mich noch gefragt, was ich
nachts alleine im Fluss mache?" Mune lachte leise, berührte Alb an
der Schulter und bedeutete, ihm zu folgen. Gemeinsam verließen
sie den Raum, und Alb folgte Mune, während er ihm zuhörte.
"Ich bin kein großer, weiser
Lehrmeister, der seit hundert Jahren den Mond hütet.",
begann Mune. "Trotzdem klinge ich vielleicht so, wenn ich dir
jetzt sage, dass jeder seinen eigenen Weg selbst sehen muss, bevor er
ihn gehen kann. Als Hüter des Mondes habe ich Zugang zu
bestimmten Fähigkeiten, aber wenn jene, die meine Hilfe suchen,
selbst nicht wissen, was ihnen helfen könnte, kann ich ihnen
nicht helfen." "Das klingt in der Tat sehr ...
schwer verständlich." sagte Alb und nickte. "Dann
weißt du, was mein Problem ist?" "Weißt du es?" Alb nickte. "Ja, zumindest bin ich
mir ziemlich sicher." Der blaue Faun lächelte und
klopfte Alb sanft auf die Schulter. "Gut. Dann werde ich
versuchen, dir zu helfen." Sie befanden sich in einem Raum, der
eigentlich keiner war - es glich eher der Brücke eines
Segelschiffes, denn sie waren im Freien! Alb sah, wie sie auf eine
Art riesige Harfe zugingen, die aus unzähligen dünnen, im
Licht des Mondes silbern schimmernden Saiten bestand. Auf diesen
Saiten saßen weiß pulsierende Mondspinnen, die langsam
und unermüdlich auf und ab krabbelten und dabei sanfte,
beruhigende Töne erzeugten. "Die Mondharfe", keuchte Alb
fasziniert. Bisher hatte er sie nur auf Bildern gesehen, oder in
Büchern, die Geschichten über die Hüter der
Himmelsgestirne erzählten. "Zu Beginn der Zeit …",
begann Mune, während er mit seinen Pfoten begann, auf der
Mondharfe zu spielen. "… herrschte auf unserem Planeten
ewige Dunkelheit. Ein starkes Wesen fing mit einer schweren Kette
einen vorbeiziehenden Stern ein, welcher unserer Welt Licht, Wärme
und das Leben schenkte - die Sonne. Er war der erste Hüter der
Sonne." Albs Blick streifte über die
Saiten nach oben, und er erkannte, dass die Saiten der Mondspinnen
bis zum Mond selbst hochführten, der silbern leuchtend und von
einem dunkelblauen Schimmer umgeben am Himmel wachte. Alb lauschte
der sanften Melodie der Mondharfe und Mune's Stimme. "Ein anderes Wesen …",
fuhr Mune fort. "… stieg in das Reich der Träume und
schlug aus einem Felsen den Mond und brachte ihn in unsere Welt auf
dass er den wachen Wesen Licht schenkte, Ängste nahm und den
Schlafenden schöne Träume bereiten sollte." "Der Mond stammt also aus dem
Reich der Träume selbst", flüsterte Alb und lächelte.
All seine Sorgen und Ängste waren für den Augenblick
vergessen. Am liebsten wäre er für immer einfach so
dagestanden, den Mond betrachtend und Munes Stimme lauschend. Doch
dann drangen wieder dunkle Gedanken in seine Seele, die seine
Mundwinkel nach unten fallen und seine Glieder kalt werden ließen.
Er senkte den Kopf, schloss die Augen und seufzte. "Natürlich kenne ich die
Geschichten über unsere Welt. Über die Sonne, den Mond und
auch, wie du unsere Welt gerettet hast. Wie du die Wesen aus dem
Reich der Alpträume besiegt hast. Deshalb habe ich mir so sehr
gewünscht, es mir herbeigesehnt, dich endlich zu sehen. Aber
..." Er schüttelte langsam den Kopf. "Vielleicht ist
es schon zu spät." Mune legte seine Pfoten auf Albs
Schultern. "Es ist nie zu spät. Du kennst meine Geschichte
- jetzt möchte ich deine hören." Alb nickte und streifte seine
Ledertasche, die er immer noch über seinen Schultern trug, ab
und holte die herausgerissene Buchseite hervor. Er strich das
zerknitterte Papier glatt, und eine vom Wasser verschwommene, aber
noch lesbare Schrift kam zum Vorschein.
"Na schön", sagte Alb
leise, und begann seine Geschichte zu erzählen. Kapitel
4 Ein Jahr zuvor ... Sie hatten den alten Turm vor drei
Tagen entdeckt. Alb war ganz schön aufgeregt gewesen, als Latara
ihm von der Idee erzählte, dass sie sich in den dunklen Teil des
Waldes bis zu dem Gebäude vorwagen sollten, dessen Spitze aus
den Baumwipfeln ragte. Alb war schon immer der Unsichere von
ihnen gewesen: Latara, ein taffes, hübsches Faunmädchen mit
tiefschwarzem Fell und hellen, grünen Augen, die immer gerne
Risiken einging und ihren weißhaarigen, eher ängstlichen
Freund an die Hand nahm und in so manches Abenteuerhineinzog. Wie gesagt: Schon immer war Alb
unsicher, ängstlich und hatte wenig Selbstbewusstsein. Aber mit
Latara an seiner Seite fühlte er sich stets sicher. Er war sehr
glücklich, sie als Freundin gefunden zu haben, denn wie er war
auch Latara eine Außenseiterin. Weniger wegen ihres Aussehens,
so wie es bei Alb der Fall war, sondern weil Latara so gar nicht
"mädchenhaft" war. Gerade die Weibchen unter den
Faunen hatten ruhig, zurückhaltend und still zu sein. In der
Öffentlichkeit sah man immer nur die Männchen auftreten;
egal ob als Hüter, als Gelehrte oder Anführer.
So hatten sich die beiden irgendwie
gesucht und gefunden, und wenn der ganze Stamm tief und fest schlief,
waren Alb und Latara unterwegs. Sie nannten das "Traumwandeln",
denn Alb hatte die Fähigkeit, andere Wesen in ihren Träumen
zu besuchen und mit ihnen den Traum so zu gestalten, wie sie es
wollten. Mal zogen sie mit riesigen Urzeit-Monstern durch die Gegend,
ein anderes Mal waren sie im Weltraum und konnten ihren Planeten aus
weiter Ferne sehen.
Zum ersten Mal jedoch entdeckten sie
etwas in der realen Welt, wovon sie bisher nur geträumt hatten.
"Der Turm", keuchte Alb und
schüttelte den Kopf. Noch immer konnte er nicht glauben, was er
da sah. "Er ist wirklich da." Sie befanden sich in der "Dämmerzone"
zwischen Tag und Nacht: Auf der rechten Seite zog der Sonnentempel
seine Bahn und erhellte das Land unter sich. Auf der linken Seite war
die Nacht, und an ihrem Himmelleuchtete in der Ferne der Mond. Albs
Herz klopfte, denn er liebte die Nacht und auch den Mond. Mune war
gerade vor zehn Tagen zum neuen Hüter des Mondes erkoren worden
– jeder im Stamm kannte die Geschichte von Mune und wie er den
Mond vor Nekros gerettet hatte. Leider kannte Alb Mune nicht
persönlich, er hatte ihn nur ein paarmal flüchtig gesehen.
Jetzt, wo er der Hüter des Mondes war, war der blaue Faun so gut
wie unerreichbar; zumindest fühlte es sich so an. Lataras Lachen holte Alb aus seinen
Gedanken wieder in die Realität zurück. "Natürlich ist er da. He –
was ist, wenn wir Dinge, die wir im Traum erschaffen, auch in der
realen Welt erscheinen lassen können?" Alb lächelte und schüttelte
den Kopf. Latara hatte manchmal so schnelle Gedankenübergänge.
Oft sagte sie drei verschiedene Dinge in einem Satz. "Ich glaube
nicht, dass das möglich ist. Entweder es ist ein reiner Zufall,
oder einer von uns hat den Turm mal gesehen und erinnert sich nur im
Traum noch daran." "Quatsch!" Latara schnitt
eine Grimasse. "Wir sind doch schon so oft in der Dämmerzone
gewesen. Ist dir da jemals dieses Ding aufgefallen? Nee, glaub' mir,
der war vorher noch nicht da." Latara rannte auf das Dickicht zu und
lachte. "Los, wer als Letzter am Turmist,muss als erster rein." Alb grinste und setzte sich in
Bewegung.
Der "Dunkle Wald" machte
seinem Namen alle Ehre; die Bäume wuchsen hier besonders dicht
beieinander. Immer weniger Glühwürmchen schwirrten durch
die nächtliche Luft, und auch das Licht der Sonne auf der
rechten Seite wurde immer schwächer. Der Turm schien sich zwar
genau auf der Dämmerseite zu befinden, je näher sie ihm
jedoch kamen, umso mehr dominierte die Nacht. Suchend blickte Alb zum Himmel in der
Hoffnung, den Mond zu sehen. Doch alles was er sah, waren funkelnde
Sterne. "Wo ist er nur ..." Latara, die elegant über
Baumstämme und Äste kletterte, fragte: "Hast du was
gesagt?" Als seufzte. "Ach ... nichts." Sie schoben die letzten großen
Bamba-Blätter zur Seite und erblickten eine kleine Lichtung–
und da stand er! Direkt vor ihnen ragte jener Turm in die Höhe,
von dem sie so oft geträumt hatten. Mal war er Teil eines
riesigen Schlosses gewesen, in dem sie Königin und König
gespielt hatten, mal hatte er als ein Leuchtturm ihnen den Weg über
ein stürmisches Meer gewiesen, auf dem sie als wilde Piraten
riesige Goldschätze geraubt hatten. Im fahlen Licht der Sterne und des
fernen Mondes stand er nun vor ihnen: ein hoher, schmaler Zylinder
aus grauen Steinen, genau drei ovalen Fenstern, die wie dunkle Augen
ins Leere starrten und einem mit roten Ziegeln bedecktem,
kegelförmigem Dach. Eine schmale Treppe ohne Geländer
führte zu einem metallisch glänzenden, verschlossenen Tor. "Das gibt es nicht", murmelte
Latara. "Schau nur, sogar die Fenster sehen so aus wie im Traum.
Alb, kneif mich, vielleicht sind wir ja wieder in einem Traum und
wissen nicht, dass wir schlafen. Nein, wage es nicht, du wirst doch
nicht ein Mädchen kneifen, oder?! Sag' mir lieber, ob wir wach
sind oder träumen?!" Sie sprach sehr schnell, und je
aufgeregter Latara war, um so schneller sprach sie und um so
verworrenerebenfalls: Alb wusste nicht, ob er sie jetzt kneifen
sollte oder nicht ... statt dessen lachte er leise und sagte:
"Latara, wir sind wach, glaube es mir. Du hast doch den Sonnen-
und auch den Mondtempel gesehen, oder?" Latara nickte. Sie sprachen
miteinander, ohne dabei ihre Blicke vom Turm abzuwenden.
"Und das Vibrieren auf dem Boden
gespürt, das die Bewegung der Tempel verursacht?" Wieder ein stummes Nicken. "Na siehst du. Die Wächter
der Sonne und des Mondes sind die einzigen Wesen, die ich nicht in
einem Traum erscheinen lassen oder in einen Traum ziehen kann. Sie
sind also real, und somit ist auch der Turm real." "Worauf warten wir dann noch?",
sagte Latara und grinste Alb an. "Schauen wir ihn uns mal an." Mit diesen Worten preschte sie nach
vorne. Alb lachte und wollte es ihr gleich
tun, als er plötzlich wie erstarrt war. Der Turm stand mitten
auf einer Lichtung. Da sie die ganze Zeit nur das seltsame Gebäude
selbst im Blick hatten, hatte keiner von ihnen darauf geachtet, was
sich auf dem Boden befand, oder besser gesagt, was sich da nicht
befand ... Tiefe, kalte Finsternis erstreckte sich
vor ihnen. Alb konnte gerade noch Halt an einem Ast finden, Latara
jedoch stürzte kreischend in die Tiefe ... Er hörte sie
ihren Namen schreien und ein "Hilf mir ..." Dann verstummte
sie und war von der schwarzen Tiefe verschluckt wie von einem
riesigen, gierigen Maul eines Monsters. Alb war starr vor Angst. Er klammerte
sich mit seinen Pfoten an einem Baum und starrte mit geweiteten Augen
in die Schwärze, die gerade Latara verschlungen hatte. Nach einigen Herzschlägen
erinnerte er sich wieder daran, zu atmen ... Seine Glieder waren
eiskalt, in seinen Schläfen pochte ein eisiger Schmerz.
"Ist das ... ein Traum ...",
keuchte er. "Es muss ... ein Traum sein ..." "ES IST KEIN TRAUM", dröhnte
eine tiefe Stimme durch den Wald.
Alb blickte in die Richtung, aus der
die Stimme kam, und mit aufgerissenen Augen sah er ein rotes Glühen
in den Fenstern des Turms. Lähmende Angst befiel ihn, denn der
Turm schien ihn anzustarren. Und seine roten Augen schienen ihn böse
anzugrinsen. "BRING' MIR MEHR", dröhnte
es wieder. "ICH BIN HUNGRIG!" Laut schreiend riss sich Alb von dem
Baum los und rannte schreiend und kreischend durch den Wald, schlug
Äste und Blätter aus seinem Gesicht, stolperte, fiel,
rappelte sich wieder auf und rannte weiter, bis er schließlich
den Rand des Waldes erreicht hatte, wo sich sein Stamm befand. Seine Lungen brannten, in seinen Augen
standen Tränen, doch er konnte nicht weinen.
"Latara ...", keuchte er. Alb
wagte es nicht, hinter sich zu blicken; zu schauen, ob der Turm noch
da war. Er kniff sich so fest in seinen Arm, dass er sich dabei ein
paar Fellhaare ausriss, rieb sich die Augen, und schließlich
schlug er mit der Stirn gegen einen Baumstamm. Nein, er war wach, das
war kein Traum, es war real.
Langsam drehte er sich um und wagte
einen Blick ... der Turm war verschwunden, der Wald, der ihn umgeben
hatte, von der Dämmerung verschluckt. *** "Da Latara eine Außenseiterin
war", erklärte Alb, während er sich an dasGeschehen
vor einem Jahr erinnerte, "hat niemand nach ihr gefragt. In
unserem Stamm geht man nicht sehr fürsorglich miteinander um.
Naja, ich hatte beschlossen, nichts darüber zu erzählen,
bis ..." "Bis die anderen Faune begannen,
Albträume zu bekommen, oder?", fragte Mune ernst. Alb nickte. "Ja. Sie träumen
... von ihr." Sie saßen auf großen,
dunkelblauen Sitzkissen. Mune hatte Tee gekocht, der jedoch von Alb
kaum angerührt wurde und nur dampfend in einem hohen Becher
neben seinem Sitzkissen stand. Er roch wundervoll, doch Alb war
wieder wie gelähmt vor Angst, während er sich an das
Erlebnis mit dem Turm erinnerte. Mune seufzte leise und nickte. "Ja,
meine Mondspinnen haben immer sehr viel zu tun, wenn wir an eurem
Dorf vorbeikommen. Nacht für Nacht muss ich für sie
besonders viel auf der Harfe spielen." "Ihre Träume quälen sie
so sehr", flüsterte Alb. "dass sie sich nicht mehr
trauen, einzuschlafen." Er blickte Mune traurig an. "Einige
sind dabei, verrückt zu werden. Vor einigen Tagen ist die Gewalt
eskaliert, als Sved und seine Kumpanen herausfanden, dass ich vor
einem Jahr mit Latara auf der Dämmerseite des Waldes gewesen war
– und Latara daraufhin verschwunden ist. Sie glauben, ich hätte
sie umgebracht, Mune. Sie sind davon überzeugt, dass ich ein
Dämon bin oder zumindest einem Dämon diene. In ihren
Träumen werden sie von Latara – oder was so aussieht wie
sie – gequält, verletzt, gepeinigt. Es sind so grauenvolle
Träume, dass ich nicht auszusprechen wage, was in ihnen
geschieht." Mune rutsche näher zu Alb, legte
seine Pfote um Albs Schulter und seine andere Pfote auf Albs Brust.
"Ganz ruhig. Hier im Mondtempel bist du vor bösen Träumen
sicher." "Ich habe in einem alten Buch
gelesen, dass der Hüter des Mondes besondere Fähigkeiten
besitzt, was Träume angeht. Und so ... kam ich auf dich." Erst jetzt wurde Alb die Berührung
und Nähe von Mune bewusst. Er unterdrückte den Drang, sich
von dem blauen Faun einfach in die Arme schließen zu lassen.
"Du hast auch diese Fähigkeiten",
sagte Mune ernst. "Du kannst andere Wesen in deine Träume
holen. So was ..." Er verharrte kurz, haderte mit seinen Worten,
und sagte schließlich. "So was kann auch böse Wesen
anlocken." Eine schwere Stille lag plötzlich
im Raum. Nur die sanften Töne der Mondharfe waren zu hören,
die von den krabbelnden Mondspinnen erzeugt wurden. "Es ist meine Schuld",
flüsterte Alb und sprang auf. "Es ... es ist alles meine
Schuld. Ich habe Latara in diese Träume geholt, sie Nacht für
Nacht in diese fantastischen Welten entführt ... ich habe dieses
furchtbare Wesen auf uns aufmerksam gemacht." Er schlug sich die
Pfoten vors Gesicht und schluchzte.
"Alb", sagte Mune mit sanfter
Stimme, "das war nicht deine Schuld. Traumdämonen sind wie
eine Krankheit. Und für jede Krankheit gibt es auch ein
Heilmittel." Alb wischte sich die Tränen vom
Gesicht und kam sich ziemlich blöd vor, dass er vor dem Wächter
des Mondes wie ein kleines Kind weinte. "Du kannst mir also
helfen?" Mune schnitt eine Grimasse. "Ich
bin Traumwandler, und mir hat mal jemand sogar gesagt, ich sei der
mächtigste Hüter aller Zeiten."
Kapitel
5 "BRING' MIR MEHR", dröhnte
es wieder. "ICH BIN HUNGRIG!" Alb schreckte aus seinem Albtraum auf,
tastete wie ein Blinder in der Dunkelheit, die ihn völlig umgab
und stieß mit seinen Pfoten gegen etwas Weiches, Flauschiges.
Ein leises Kichern gegrüßte ihn. "Alb, du musst deine Augen schon
aufmachen.", sagte eine sanfte, ihm sehr vertraute Stimme. "Latara", rief Alb und
öffnete seine Augen ein zweites mal und erblickte ... ... den blauen Faun mit den weichen,
freundlichen Augen. "Mune?" Alb bemerkte erst
jetzt, dass er wirklich wach war: Die Dunkelheit war nur ein Traum in
einem Traum gewesen. Er saß auf Munes Bett, lediglich seine
Beine waren zugedeckt. Alb schob die dunkelblaue Decke mit den
aufgestickten Sternen gänzlich zur Seite, rieb sich die Augen
und wich Munes Blick aus. Mune lächelte. "Keine Angst,
das war ein -" "Traum in einem Traum." Alb
nickte. "Ja, ich weiß. Und ich bin ein lausiger
Traumwandeler." "Du hast lediglich keine Übung.
Lausig wärst du, wenn du nicht mal mehr die alte Erinnerung in
deinen Traum holen könntest.", erklärte Mune. Er stand auf und bewegte sich auf die
Mondharfe zu, wo die Mondspinnen unermütlich auf- und ab
krabbelten und die Bewegungen des Mondes steuerten. Mune strich über
drei Saiten und ließ den Tempel leicht nach Norden bewegen. Ein
Blick auf die Karte verriet, dass sie sich etwa 560 Schritte von
jener Stelle befanden, wo Alb und Latara den Turm gefunden hatten.
Laut der Karte war da lediglich Wald, doch das hatte nichts zu
bedeuten. Entweder der Turm war nur eine Traumprojektion, die es wie
auch immer in die reale Welt geschafft hatte, um für den Dämon
"Beute" zu fangen wie es Jäger mit Tierfallen zu
längst vergessenen Zeiten getan hatten, oder der Traum war ein
reales Gebäude, aber zu alt, um auf einer Karte verzeichnet
worden zu sein. Der Faunen-Wald, wo auch Munes Familie
und Stamm ihre Heimat hatten, befand nicht nicht unweit dieser
Stelle, und Mune selbst hatte seine Kindheit in dieser Gegend
verbracht und kannte sie besser als die sprichwörtliche
Westentasche. Doch nie war ihm da ein Turm aufgefallen oder ähnliche
Bauwerke. Doch wie gesagt: Das hatte nichts zu bedeuten. Es war jetzt 20 Stunden her, seit Mune
beschlossen hatte, den Kurs des Tempels geringfügig zu ändern,
um jene Stelle zu erreichen, die Alb ihm beschrieben hatte. Wenn er
Alb helfen wollte, dann ging das nur, wenn sie gemeinsam dem Ursprung
des Problems - jenem mysteriösen Turm - auf den Grund gingen. Da
der Tempel sich jedoch immer nur geradeaus bewegen konnte, weil der
Lauf des Mondes mit dem Lauf der Sonne synchron sein musste, damit
das Gleichgewicht von Tag und Nacht im Einklang blieb, mussten sie
quasi den gesamten Planeten umrunden. In dieser Zeit wollte Mune Alb
in der Kunst des Traumwandelns unterrichten; ihm beibringen, wie er
seine Erinnerungen an andere Träume zurückholen und
kontrollieren konnte. Vielleicht war der Schlüssel zu Lataras
Schicksal tief in den Träumen des weißen Fauns verborgen.
Jedoch musste Mune feststellen, dass Alb von Angst und Unsicherheit
regelrecht zerfressen war: Er versperrte sich vor seinen Ängsten,
wollte sich ihnen nicht stellen. Und das hatte natürlich
Einfluss auf die "Traumreise". Alb trat zu ihm, musterte kurz - wie so
oft und immer öfter in den letzten Tagen, seit sie sich kannten
- Munes wunderschönes, blaues Fell. Er hatte einen sehr starken
Drang, den blauen Faun fest in seine Arme zu schließen, über
sein Fell und sein Haupt zu streichen und ... Mune blickte über seine Schulter
und lächelte Alb an, als hätte er dessen Gedanken gerade
gehört. "Wir sind gleich da." Alb schluckte verlegen. "Ah ... ja
..." "Hast du Angst?" "Wenn ich ehrlich bin, ja.",
sagte Alb leise. "Da ich nicht weiß, was uns
erwartet, würde ich lügen, würde ich sagen: Du
brauchst keine Angst zu haben. Aber eines kann ich dir versprechen,
ich werde mit meinen Fähigkeiten, die mir der Mond verleiht,
dich beschützen." Alb verspürte eine angenehme Wärme
in seinem Herzen. Munes Stimme und das was er mit dieser Stimme sagte
fühlte sich wie ein angenehmer, wohliger Schauer an. Egal wie
dies alles ausgehen mochte: Alb wollte immer in Munes Nähe sein.
Ob dies überhaupt möglich war und ob es einem Hüter
gestattet war, "Mitbewohner" in seinem Tempel zu haben,
wusste Alb gar nicht. Aber er wollte zumindest diese Hoffnung nicht
verwerfen. Andererseits ... was ist, wenn Mune nicht wollte? Nicht
die selben Gefühle für ihn hegte wie Alb für Mune? In diesem Moment, wo Alb jene dunkle
Gedanken überkamen, spürte er ein Kälte in seinem
Herzen, und die Schreie von Latara klangen in seinem Kopf, die dunkle
Stimme dröhnte BRING MIR MEHR ... Eiskalte Klauen umklammerten
Albs Kehle, er vermochte sich nicht mehr zu bewegen. BRING MIR MEHR,
ALB! VERGISS DEN BLAUEN FAUN - ER WIRD DICH NIEMALS SO LIEBEN WIE DU
IHN! ES IST NUR EINE ILLUSION - LIEBE IST EINE ILLUSION! ICH BIN
REAL, ICH BIN WICHTIG! MUNE LACHT DOCH HEIMLICH ÜBER DICH ...
KOMM MIT MIR IN DIE DUNKELHEIT ... "Alb?" Mune legte seine Pfote auf Albs
Schulter und rüttelte ihn sanft. "Alb, was ist los?" Der weiße Faun blickte Mune
erschrocken an. "Du warst mehrere Herzschläge
lang wie erstarrt.", sagte Mune.
"Ich ... was?!" Mune legte seine Pfote auf Albs Brust.
"Spüre den Herzschlag, Alb. Spüre meine Wärme.
Dies ist kein Traum, es ist wirklich." Erst jetzt bemerkte Alb, das er nicht
atmete ... erschrocken holte er tief Luft und keuchte. "Ich ...
ich ..." "Hab´ keine Angst, Alb.",
sagte Mune beruhigend. Er legte seine Pfote um Albs Schulter und
bedeutete ihm, sich wieder hinzulegen. "Wir sind gleich da. Leg dich hin,
ich muss jemanden holen." "Lass mich nicht alleine, Mune.",
flüsterte Alb und umklammerte Munes Handgelenk. "Bitte ...
ich will nicht alleine sein ..." Mune löste sich sanft aus Albs
Umklammerung, richtete sich auf und machte mit seinen Armen kreisende
Bewegungen. Aus dem dunkelblauen Fell seiner Unterarme regnete
funkelnder Glizter auf Alb herab. "Habe einen schönen
Traum, Alb. Habe einen schönen Traum, bis ich wieder komme ..." Der Glitzer fiel auf Albs Gesicht und
der Faun spürte, wie er müde und schläfrig wurde ...
der sanfte Klang der Mondharfe, Munes Stimme und der glitzernde
Mondstaub, den der Hüter über ihn ausstreute, versetzten
ihn in Trance ... Die Schatten wichen, die Kälte verging, die
böse Stimme verstummte. Doch zu träumen vermochte er nicht
- Alb fiel in einen traumlosen Schlaf. Kapitel
6 Als er die Augen aufschlug, blickte Alb
in ein ihm völlig fremdes Gesicht. Es war das Gesicht eines
älteren, ein wenig unfreundllich drein blickenden Fauns mit
dunkelblauem und schwarzen Fell. Zuerst dachte Alb, wieder in einem
Traum gefangen zu sein, doch er träumte nicht. "Er ist aufgewacht", sagte
der ältere Faun und beäugte ihn misstrauisch. "Und du
bist sicher, dass du das tun willst, Mune?" "Es ist der einzige Weg,
Leeyoon.", sagte Mune ernst. "Und du bist der Einzige, dem
ich den Tempel und den Mond anvertrauen kann." Alb richtete sich auf.
Mune lächelte ihn an. "Das
ist Leeyoon. Es fällt ihm zwar schwer, lieb zu gucken, aber
glaube mir, er ist ein guter Faun. Ihm werde ich vorrübergehend
den Mondtempel überlassen, solange ich mit dir den Turm
aufsuchen werde." "Mune, mir gefällt die ganze
Sache nicht", sagte Leeyoon skeptisch. "Du weißt, was
beim letzen Mal passiert ist." "Das ist was anderes", sagte
Mune. "da waren noch die Schlangen-Dämonen und Nécross,
die die Sonne gestohlen hatten. Außerdem sollst du ja nicht
meinen Dienst komplett übernehmen, sondern nur aufpassen, dass
sich niemand am Tempel und am Mond zu schaffen macht." Leeyoon seuftzte und verschränkte
die Arme. "Naja, wenn es unbedingt sein muss." Alb stand vom Bett auf und blickte
zwischen den beiden, während sie miteinader sprachen hin und
her. Die Szene erinnerte an Eltern, die diskutierten, was das beste
für ihr Kind sei, und Alb hatte offenbar die Rolle des Kindes. "Bedeutet das", sagte Alb
langsam. "dass DER hier den Mondtempel bewacht während wir
den Turm suchen?" "Nicht ganz", sagte Mune.
"Leeyoon wird mit dem Tempel genau einmal um den Planeten seine
Bahnen ziehen - schließlich darf der Mond nicht stehen bleiben.
Das heißt, wir beide haben genau 20 Stunden Zeit, den Turm zu
finden und den Traumdämon und wen oder was auch immer zu
bekämpfen, was dir und deinem Stamm Albträume beschert." Zwanzig Stunden? Alb erschreckte die
Tatsache, mit Mune diese ganze Zeit über "alleine" zu
sein, ohne Tempel, ohne Mondspinnen, ohne den Mond. Mune zog eine Sanduhr, die fast so groß
wie er selbst war, hinter einem Bücherregal hervor, das neben
dem Kartentisch stand, und drehte sie um. Silbern glitzernder Sand
fing sogleich an durch das Glas zu rieseln. "Wenn diese Uhr abgelaufen ist,
muss ich wieder im Tempel sein." An Leeyoon gerichtet, der immer
noch skeptisch dreinblickte. "Sollte die Uhr abgelaufen und ich
nicht hier sein, dann ..." Mune verharrte kurz, seuftzte und
fuhr mit leiser Stimme fort: "Dann wirst du meinen Dienst
übernehmen, Leeyoon." Leeyoon und Alb starrten Mune
erschrocken an.
"Aber ... das geht nicht ...",
keuchte Leeyoon und zeigte zum ersten Mal eine emotionale Regung in
seinen Gesichtszügen. "Doch, das geht.", sagte Mune
mit fester Stimme. "Ich kann mir keinen anderen vorstellen als
dich, Leeyoon. Und der Mond ist wichtiger als ich. Als Hüter
kann ich jeden als meinen Nachfolger ernennen, den ich für
richtig halte." Er klopfte gegen das Glas der Sanduhr.
"Zwanzig Stunden haben wir Zeit. Ich vertraue dir hiermit den
Tempel und den Mond an." Leeyoon nickte. "Gut. Du kannst
dich auf mich verlasen. Viel Glück, Mune." An Alb gewandt
sagte Leeyoon: "Dir auch, Alb." Dann verließen Mune und Alb den
Tempel. Kühles, feuchtes Gras unter den Füßen, mit
kleinen Ledertaschen, einer Karte und einer kleinen Sonnenuhr
ausgestattet standen die beiden Faune in einer Schneise, die quer
durch den Wald führte direkt vor dem dichten Unterholz des
Waldes der "Nachtwesen" und blickten dem sich entfernenden
Tempel und Mond nach. Es würde noch etwa 2 Stunden lang dunkel
sein, bevor der Sonnentempel eintreffen und den Tag einläuten
würde.
Kapitel
7 Der Spaziergang durch den nächtlichen
Wald mit Mune an seiner Seite glich einem friedlichen Traum, wo man
niemals auf die Idee hätte kommen können, dass es überhaupt
jemals etwas Schlimmes oder Schreckliches auf der Welt gab. Mune
berührte auf ihrem Weg durch das Unterholz Blumen, die durch
seine Berührung nicht nur erblühten, sondern sogar
leuchteten wie kleine Lampen. Bei jeder Berührung, jedem
Erglühen wurde Munes Gesicht kurz erhellt und sein freundliches,
liebevolles Lächeln wurde noch etwas freundlicher und
liebevoller. Albs Herz schlug höher, und tief in ihm begann bei
diesem Anblick auch ein Licht zu erleuchten. Jedoch nur kurz, denn
der Schatten seiner Albträume und bösen Visionen
überschattete alles. "Leeyoon wollte also auch Hüter
des Mondes werden?", fragte Alb, um sich selbst von dunklen
Gedanken abzulenken. Mune nickte. "Ja, aber Yule war
anderer Meinung und erwählte mich stattdessen." "Und wolltest du Wächter
werden?", fragte Alb neugierig. Mune lachte leise. "Du stellst
schwierige Fragen, Alb. Damals wollte ich es nicht - als das Schaf
Yule mich erwählte, war ich zutiefst erschrocken und wollte
nicht wahrhaben, dass man mich für diese Aufgabe haben wollte.
Aber ..." Mune hielt inne, seufzte und blickte zum Himmel. Die
Dämmerung brach bereits herein. "Wenn ich ehrlich, ich
wollte es immer sein. Der Mond, die Nacht, die Gabe anderen Wesen
schöne Träume zu bescheren; ja, ich wollte Mondwächter
werden." Er blickte Alb an und legte den Kopf
schief. "Und nein, ich glaube nicht an Schicksal und Zufall." Alb schaute fragend drein. "Warum
sagst du das jetzt?" Mune lächelte. "Deine Frage,
ob ich Wächter werden wollte sagt mir, dass dich genau solche
Fragen beschäftigen. Ich glaube nicht, dass es ein Schicksal
gibt - Ereignisse, die vorherbestimmt sind - aber, dass wir alle
unbewusst auf genau das Ziel zuarbeiten, das wir tief in unserem
Herzen für unser Leben gesteckt haben. Wir müssen nur auf
unser Herz hören." Alb war über die weisen Worte
überrascht - ja, er sprach immerhin mit dem Wächter des
Mondes, aber Mune verriet durch sein Aussehen, seine Art zu sprechen
und seinen unschuldigen Blick nicht, welche Kräfte und
Fähigkeiten er besaß. Der weiße Faun nickte
verstehend, doch dann ließ er seine Ohren hängen und
seufzte. "Das klingt so schön, trifft aber leider nicht auf
jeden zu. Ich ..." Er verharrte und ließ den Kopf sinken.
"Ich gehöre nicht zu den Glücklichen, denen etwas
geschenkt wird. Im Gegenteil: Man hasst mich, deshalb hat man mich
vertrieben." In diesem Augenblick ging die Sonne
hinter ihnen auf. Die ersten Sonnenstrahlen brachen durch das
Blätterdach des Waldes und färbten ihn nach und nach von
Blau in Violett, dann in Gelb und Grüntönen. Mune legte seine Pfote auf Albs
Schulter. "Alb", begann Mune sanft. "Jeder muss seinen
eigenen Weg gehen. Nicht jeder kann König, Hüter oder
Zauberer sein." Alb nickte schniefend. "Ja, ich
verstehe. Es ist nur -" Der weiße Faun verharrte abrupt
und starrte in die Richtung, in der sie unterwegs waren. Er atmete
schwer und griff instinktiv nach Munes Pfote. Der blaue Faun ergriff
sie und hielt den allmählich taumelnden Alb fest. "Was ist ...", fragte Mune
verwirrt, dann blickte er in jene Richtung, in die Alb starrte. Vor
ihnen ragte die Spitze eines Turms zwischen den Bäumen in den
allmählich heller werdenden Himmel. "Scheint so, als hätten
wir gefunden wonach wir gesucht haben.", sagte Mune düster. Kapitel
8 Sie standen vor genau der gleichen
Lichtung, wo einst Latara von jener tiefen Schwärze verschlungen
wurde, die Alb in seinen Albträumen verfolgte. Der weiße
Faun war wie gelähmt, als er den Turm sah, und die Erinnerung an
das Geschehene kam wieder in ihm hoch. Mune berührte ihn an der Schulter.
"Alb, um zu erfahren, was passiert ist, müssen wir da hin."
Es war, als hätte der Hüter des Mondes seine Gedanken
gelesen, denn Alb wollte am liebsten wieder weglaufen, weg von hier.
Aber es gab Momente, in denen man sich seinen Ängsten stellen
musste, auch, wenn es weh tat, auch, wenn es Verlust bedeutete.
Alb schluckte und nickte. "Ja,
aber bitte lass mich nicht alleine." Mune drückte sanft seine Schulter.
"Ich bin bei dir, deshalb bin ich doch da." "Wir müssen den Turm
erreichen, ohne den Boden der Lichtung zu berühren.",
erklärte Alb. "Sonst werden wir wie Latara von der Schwärze
verschlungen." Der blaue Faun richtete sich auf und
strich sich über das Fell. "Ich habe da schon eine Idee." Er holte die kleine Sonnenuhr hervor
und strich mit seiner Pfote über einen kleinen Kristall, der auf
der Unterseite der Uhr angebracht war. Der Kristall gab einen leisen,
surrenden Ton von sich und im nächsten Augenblick krabbelten
etwa zwei Dutzend weiße Mondseide-Spinnen wie aus dem Nichts
aus dem Unterholz. Mune bedeute in Richtung Turm, lächelte und
nickte stumm. Die Spinnen begannen lange, weiße Fäden zu
spinnen. Mune erhob seine Arme und schwenke sie, sodass aus dem Fell
seiner Arme unzählige Lichtfunken hervorstoben, die die Spinnen
hochschweben ließen. Alb beobachtete das Schauspiel
schweigend und mit Faszination. Er hatte nicht gewusst, dass ein
Hüter über dermaßen viele Fähigkeiten verfügte.
Es war wieder einer jener Augenblicke, wo Alb sich wie in einem Traum
fühlte. Er hatte das Gefühl, würde er jetzt aufstehen
und es nur wollen, er könne fliegen ... ... er fühlte sich plötzlich
so leicht und ehe Alb es sich versah wurde ihm bewusst, dass sich
seine Füße nicht mehr auf festem Boden befanden. Er
schwebte zusammen mit Mune sanft auf einem kunstvoll gewobenen
Teppich aus unzähligen weißen, glitzernden Fäden der
Mondseide-Spinnen. Mune lachte leise, als er Albs
Verwunderung bemerkte. "Alles gut, lass dich einfach tragen." Als sie sich auf halber Strecke
befanden, blickte Alb Mune an und fragte ihn: "Ist das ein
Traum?" Mune lächelte nur als Antwort. All seine Angst und Panik, die ihn mit
diesem Ort verbanden, fielen von Alb ab. Er fühlte sich leicht
und wie von einer weichen, sanften Decke eingehüllt. Mune war
mehr als der Wächter des Mondes, mehr als ein Herr der Träume.
Mune war ... Ich liebe dich. Mune blickte ihn an. Sie waren nur noch
wenige Schritte vom Eingang des Turms entfernt.
Mune lächelte wieder, und Alb
hörte den blauen Faun etwas sagen, ohne jedoch dessen Lippen
sich bewegen zu sehen: Ich weiß. Sie landeten sanft auf der steinernen
Treppe, die sich direkt vor der großen, massiv aussehenden
Holztür des Turms befand. Die Mondseide-Spinnen hatten mit ihrem
Netz eine weiße, glitzernde, wallende Brücke zwischen Wald
und Turm gesponnen. Alb blinzelte, und ihm wurde bewusst,
dass er wieder festen, kalten Boden unter seinen Füßen
hatte. Mune berührte ihn an der Pfote. "Komm, wir haben
nicht viel Zeit." Mune bedeutete zur Tür des Turms.
Alb hatte kurz den Wunsch, einfach wieder wegzulaufen. Weg von diesem
Turm, weg von dieser Angst, was ihn dort erwartete. Würde er
Latara dort finden? Oder ein Monster? Würde er zusammen mit Mune
in die Falle eines Ungeheuers, eines Dämons tappen und für
immer in der Finsternis verschwinden? Doch dann blickte er zu Mune; blickte
in dessen große, tiefe, blauen Augen. Ein Gefühl von Wärme
und auch Kraft erfüllte ihn.
"Du hast recht", sagte Alb.
"wir haben nicht viel Zeit."
Er streckte seine Pfote nach der Tür
aus und drückte dagegen. Zu ihrer beider Überraschung
schwang sie - zwar laut quietschend - einfach nach innen auf, und was
sie sahen, überraschte sie noch mehr. Kapitel
9 Sie befanden sich in einem großen,
kreisrunden Raum, in dessen Mitte sich eine Wendeltreppe aus Stein
befand. An den Wänden hingen rings herum brennende Fackeln, die
den Raum erhellten. Zwischen den Fackeln waren bunte Wappen aus Stoff
aufgehängt. Weder Alb noch Mune konnten die Symbole auf den
Wappen irgendetwas zuordnen, was sie je gesehen hatten. Es waren
Symbole, die wie eine Mischung aus Zahlen und Buchstaben aussahen,
zusammen mit Zeichnungen, die wage an Tiere erinnerten. Abgesehen von
dem Knacken der Fackeln war es still in dem Raum. Die Faune schritten vorsichtig weiter,
während die Tür hinter ihnen mit einem lauten Krachen
wieder zu schwang. Alb und Mune wirbelten erschrocken herum und
starrten erschrocken auf die verschlossene Tür. "Oh nein ...", keuchte Alb.
"Los, weiter ...", sagte Mune
bedeutete Alb in Richtung der Wendeltreppe. Sie schritten die Wendeltreppe nach
oben, und erst jetzt, wo sie Stufe um Stufe höher das Innere des
Turms erklommen, stellten sie fest, dass der Turm an seiner Innenwand
kreisrund mit unzähligen weiteren Wappen, Bildern und Fackeln
bestückt war. Je höher sie stiegen, umso mehr Bilder und
Wappen kamen ihnen vertraut vor: Da waren Bilder vom Mond, von der
Sonne, von Planeten, von Bäumen, Tieren und Pflanzen. Die
Symbole waren ihnen weiterhin ein Rätsel, aber je mehr sie
sahen, umso mehr schwand die Furcht vor diesem Ort. "Wo sind wir hier nur?", rief
Alb. Er wusste nicht, ob er begeistert und wachsam sein sollte. Etwas
in seinem Inneren wollte sich freuen, wollte erleichtert sein, dass
es hier kein Monster gab, aber ein anderer Teil von ihm erinnerte ihn
daran, dass Latara von dieser schrecklichen Schwärze
verschlungen worden war, dass er anderen Geschöpfen schreckliche
Albträume bescherte, und der Hüter des Mondes
höchstpersönlich ihn an diesen mysteriösen Ort
begleitet hatte, um ihm zu helfen ... "Ich habe keine Ahnung.",
flüsterte Mune. "Aber ich habe so was noch nie gesehen." Die Treppe endete auf einer Plattform,
die sich direkt unter dem Dach des Turms zu befinden schien. Die
Faune blieben wie angewurzelt stehen und starrten auf einen
überraschend harmlos wirkenden Raum: Auf dem Holzboden lag ein
großer, roter Teppich. An den Wänden standen
unterschiedlich große Holzregale vollgestopft mit Büchern
und seltsamen Instrumenten aus Metall. Hier und da standen Tontöpfe
mit grünen Pflanzen. Ein Tisch mit Kannen, Tassen und Tellern
und ein Kamin, in dem ein kleines Feuer prasselte. Die Silhouette
eines großen, roten Sofas war im Schein des Feuers zu sehen. Mune und Alb gingen langsam darauf zu,
blieben aber abrupt und zuckend wieder stehen, als sie eine Hand
sahen, die über die Armlehne gesenkt wurde. "Ist da jemand?" Die Stimme des Unbekannten vor ihnen
lähmte Alb vor Angst. Sie klang weder bedrohlich noch bösartig,
sondern eher freundlich und harmlos. Und genau das machte ihm Angst. "Ja", hörte er Mune laut
sagen. "Wir haben deinen Turm gefunden." "Mune", flüsterte Alb
entgeistert. "Was tust du da?" Mune achtete nicht auf Albs Angst und
ging einen Schritt auf das Kaminfeuer und den Fremden, der ihnen mit
dem Rücken zugewandt im Sofa saß, zu.
"Wer bist du?", fragte Mune. "Dasselbe könnte ich euch
fragen.", sagte der Fremde und drehte sich um.
Zuerst konnte man im Schein des Feuers
nicht viel erkennen - nur die Silhouette eines Kopfes und Rumpfes.
Dann, nach und nach, war das Gesicht eines alten Mannes zu erkennen.
Eines Mannes mit graublauer Haut, grünen Augen und langen,
spitzen Ohren. Auf seinem Kopf waren keine Haare, dafür ein
Hautlappen, der entfernt an den Kamm eines Hahnes erinnerte. Der Mann
- oder das Wesen - trug eine tiefschwarze Tunika mit Rollkragen, eine
blaue Hose und schwarze Stiefel, die im Schein des Feuers glänzten.
Alb erinnerte der Glanz der Stiefel
etwas an geschmolzenen Teer oder Wachs. Der Mann lächelte freundlich,
legte ein Buch, in dem er scheinbar gerade gelesen hatte, zur Seite
und stand auf. "Ihr habt mich gefunden.
Endlich.", sagte der Mann mit brüchiger Stimme. Er war kaum
einen Kopf größer als Alb und Mune. Beide Faune schauten
erstaunt zum ihm auf. "Du hast auf uns gewartet?",
fragte Mune erstaunt. "Wer bist du?", wollte Alb
wissen. Der Mann lächelte nur, wie jemand,
der mit den neugierigen Fragen zweier Kinder bombardiert wurde. Er
schritt an den beiden vorbei durch den Raum auf einen Tisch zu, wo
sich Tassen, Teller und Kannen befanden. "Wollt ihr Tee? Ich
glaube, er ist gerade richtig gut durchgezogen. Oder etwas Musik?
Mein alter Plattenspieler läuft mit Sonnenenergie, und der
Sonnentempel steht im Zenit und ..." "WER BIST DU UND WAS IST DAS FÜR
EIN ORT?", schrie Alb, der von der Ruhe und Gelassenheit dieses
seltsamen Wesens regelrecht aggressiv wurde. Mune berührte den vor Wut,
Unsicherheit und auch Angst zitternden Alb an der Schulter. "Alb,
beruhige dich ..." "Ich will mich nicht beruhigen",
zischte Alb. "Meine Freundin wurde von einem Monster
verschlungen, meine Artgenossen hassen mich und ich werde diese
Albträume nicht mehr los. Und all das habe ich wahrscheinlich
DIESEM BLAUEN KERL da zu verdanken!" Der "blaue Kerl" nickte und
lächelte verständnisvoll. "Deine Freundin ist zu
Hause." Alb preschte nach vorne und wollte
etwas sagen, doch er verharrte, als er begriff, was der Mann gerade
gesagt hatte. "Zu Hause?", fragte Mune.
"Was bedeutet das?" Der "blaue Mann" goss sich
einen Becher Tee ein, trank einen Schluck und musterte die beiden
Faune dabei. Dann deutete er auf einen anderen
Tisch, wo sich eine Art Modell aus Kugeln befand. "Der Mond!", rief Mune und
ging auf das Modell zu. Und tatsächlich: Die Kugeln waren der
Planet, auf dem sie sich befanden, der Mond und die Sonne. Der Mann nickte. "Ja. Geschaffen
vom ersten Hüter des Mondes, gehauen aus einem Felsen im Land
der Träume." Mune lächelte und nickte. "Du
kennst die Geschichte?" "Jeder kennt sie. Jedenfalls da,
wo ich herkomme.", sagte der Mann.
"Und wo kommst du her?",
wollte Mune wissen. Der Mann blickte zu Alb, der immer noch
mit einer Mischung aus Skepsis, Angst und Wut versuchte, diese
Situation einzuordnen. Und wie Alb schien auch er unsicher darüber
zu sein, was er sagen sollte, was er tun sollte.
Schließlich sagte er: "Lasst
es mich euch erzählen, was passiert ist, dann versteht ihr alles
vielleicht besser." Mit einer Handbewegung lud er Alb ein,
zu ihm und Mune an den Tisch mit dem Planetenmodel zu treten.
Zögerlich kam der weiße Faun näher. "Mein Name ist Tano Jix, der
letzte lebende Zeuge der Antares Mission.", sagte der alte Mann
leise, schloss die Augen und begann zu erzählen ... "Vor 582 Jahren ist ein Stern
explodiert ..." Kapitel
10 "Die Sonne des Planeten Biru im
Antares-System wurde zur Supernova. Über sieben Milliarden
Individuen waren in Gefahr: Das Volk der Biru, humanoide
Pflanzenwesen, hatten sich Jahrhunderte lang auf diese Katastrophe
vorbereitet, hatten gigantische Archen im Weltraum gebaut, um ihren
Heimatplaneten und ihr Sternensystem zu verlassen. Doch sie hatten
all ihre Ressourcen aufgebraucht, die nötig waren, die Archen
aus der Gefahrenzone zu befreien. In ihrer Verzweiflung haben sie ein
Notsignal ausgesandt, in alle Richtungen des Alls ... Auf Planeten wie Gaia, der Welt der
Menschen, ging dieses Signal als das "Wow! Signal" in die
Geschichte ein, andere Zivilisationen verstanden es als eine Gefahr
und hielten den Hilferuf der Biru unter Geheimhaltung, wieder andere
interpretierten das Signal als Kriegserklärung an ihre Welt und
wieder andere hatten keine technologischen Möglichkeiten, das
Signal zu empfangen oder zu verstehen. Doch eine der Welten, welche das
Signal empfingen, war Coban, mein Heimatplanet. Die Cobanianer
entsandten unter der Leitung des Wissenschaftlers Kip Supernova eine
Raumschiff-Flotte nach Antares, um mit einer experimentellen
Technologie die Energie der Nova abzuleiten, ein Wurmloch zu öffnen
und die Archen der Biru in eine sichere Welt zu befördern. Dabei
kam es beinahe zum Krieg zwischen Coban und Reptilion, da sich Kip
und seine Besatzung den Befehlen der BASA widersetzte und sich mit
einigen Reptilianern verbündete, um das Leben von sieben
Milliarden Biru zu retten.
Im Augenblick der Supernova wurde
die gesamte Galaxie vom Licht der Explosion erfüllt, ein
gigantischer Lichtstrahl wurde vom Quantenkompensator, den Kip
zusammen mit einem Reptilianer im letzten Moment aktivieren konnte,
aufgefangen und schuf das Wurmloch, das die Archen der Biru
schließlich retten konnte. Tausende von Welten - unter anderem
Gaia, Coban, Tannusa und viele weitere - konnten die Explosion und
das Licht der Supernova mit bloßen Augen am Himmel verfolgen.
Mein Raumschiff schaffte es jedoch
nicht schnell genug zum Wurmloch - es schloss sich und ich wurde von
der Druckwelle der Explosion in die Weiten des Alls geschleudert. Aus
dem Kern der explodierten Antares Sonne entstand ein Schwarzes Loch,
das die umherschwirrenden Sternen-Reste zerriss. Sogenannte
Strange-Lets wurden erzeugt, die wiederrum das Gewebe der Raumzeit
selbst zerrissen. Es waren Risse im Wesen der Realität, in die
ich hineingesaugt wurde und schließlich hier auf dieser Welt
landete." Kapitel
11 Sowohl Mune wie auch Alb haben nicht
mal die Hälfte von dem verstanden, was Tano ihnen da erzählt
hatte. Aber beide verstanden nun, was das Problem war: Alb kam aus
einer anderen Welt, die jenseits dessen lag, was Mune sich vorstellen
konnte. In den alten Büchern standen Geschichten darüber,
dass die Traumwelt auch nichts weiter als die Wirklichkeit anderer
Wesen war, und seine Welt wiederum die Träume dieser Wesen war.
„Dann muss Alb also ...“,
begann Mune langsam und nachdenklich. „Ich muss in die Finsternis
springen.“, fiel Alb dem blauen Faun ins Wort, senkte den Kopf
und seufzte. „Weil dies hier nicht meine Welt ist.“ Tano nickte. „Das ist auch der
Grund für die Albträume der anderen. Da diese Welt nicht
deiner Realität ist, werden deine Träume hier real –
es ist jene Welt, die du dir erträumst. Und das beeinflusst
wiederum die Träume der anderen Wesen hier.“ „Puh ...“ Stöhnte
Mune. „Ganz schön kompliziert.“ „Und simpel zugleich“,
sagte Tano. Er schritt durch den Raum an sein Bücherregal und
zog ein zusammengerolltes Stück Pergament heraus. „Denn
dein Freund hier hat recht: Er muss es nur seiner Freundin gleich tun
und in die Tiefe vor dem Turm springen.“ Er entrollte das
Pergament und hielt es den beiden Faunen vor die Nase.
Sie betrachteten die Zeichnung, die
verschieden große, ineinander verschlungen gezeichnete Kreise
zeigte. Tano tippte auf einen der inneren Kreise. „In dieser
Dimension befinden wir uns. Alb muss aber da hin.“ Sein Finger
fuhr über eine Linie zu einem der äußeren Kreise.
„Und die Finsternis – es ist eigentlich einer jener Risse
in der Realität, von denen ich gerade erzählte –
führt wieder da hin zurück, wo er herkam.“ Munes Ohren zuckten; er legte den Kopf
schief und musterte Tano skeptisch. „Warum springst du dann
nicht auch einfach da durch in deine Welt?“ Tano lächelte schwach während
er das Pergament wieder zusammenrollte. „Ich war in einem
Raumschiff als ich durch den Riss hierher kam. Wenn ich jetzt da
durch zurück springe werde ich mitten im Weltraum landen und
sofort sterben. Dein weißer Freund hier aber scheint zumindest
von der Oberfläche eines Felsenplaneten zu stammen.
Du hast keiner Erinnerung an deine
Welt?“, fragte Tano an Alb gerichtet. Alb schüttelte den Kopf. „Nein,
ich war immer hier. Zumindest dachte ich das immer ...“ „Für dich muss die
Anwesenheit in dieser Welt sein, als wäre es ein Traum: Da weiß
man auch nie, wie es angefangen hat. Wenn man träumt, ist man
einfach mitten im Geschehen, und vermeintliche Erinnerung an ein
Vorher sind reine Illusion.“ Mune legte seine Pfote auf Albs
Schulter, denn er spürte eine tiefe Traurigkeit in Alb
aufsteigen, die er nicht verstand. „Alb, was hast du?“ Er
lächelte den weißen Faun an. „Das sind doch gute
Nachrichten, du kannst einfach wieder in deine Welt, und ...“ „Nein“, flüsterte Alb.
„Wenn ich mich nicht an das Vorher erinnere, dann bin ich
vielleicht in meiner Welt … nicht mehr am Leben.“ „Aber ..:“ Alb funkelte Mune an und fiel ihm ins
Wort: „Tano erinnert sich an sein Leben bevor er hier landete,
ich nicht.“ „Du glaubst, dass du … tot
bist?“, flüsterte Mune. „Nur, weil du keine
Erinnerung an dein Leben hast? Dein Leben in deiner Welt?“ Tano räusperte sich. „Na ja,
wenn ich mich da einmischen darf.“
Die Faune blickten den alten Mann
erwartungsvoll an.
„Es ist durchaus möglich,
dass lediglich dein Geist sich hier in dieser Welt projiziert hat,
und dein Körper leblos in deiner Welt liegt. Aber sehr
wahrscheinlich ist das nicht.“, fügte Tano schnell hinzu.
„Dein Körper ist in dieser Welt real und materialisiert.“ „Es gibt nur einen Weg das
herauszufinden“, sagte Mune und Alb blickte ihn erschrocken an.
„Du musst in die Dunkelheit springen.“ Bevor Alb etwas erwidern konnte, sagte
Tano: „Aber heute nicht mehr.“ Er deutete auf eine große
Sanduhr, die auf dem Tisch stand. „Das Energiewellen-Muster ist
erst in ein paar Stunden wieder stabil. Wenn man sich jedenfalls auf
meine mageren Kenntnisse der Quanten-Dynamik verlassen kann.“ „In ein paar Stunden“,
begann Mune nachdenklich. „Kommt der Mondtempel wieder hier
vorbei. Solange könnte ich hier bei dir bleiben und mit dir
warten.“ Er blickte Alb in die Augen. „Wenn du das willst
...“ Albs war von Munes Augen regelrecht
gefangen. Er konnte sich nicht von seinem Blick losreißen; in
seinem Hals bildete sich ein Kloß und er hatte das Gefühl,
seine Knie würden gleich nachgeben und er in Ohnmacht fallen.
„Die kleine Treppe hier“,
hörte Alb wie aus einer weiten Entfernung Tano sagen. „führt
zu einer Kammer. Da steht ein Bett und … na ja, ihr könnt
euch da ja ein bisschen ausruhen wenn ihr wollt.“ „Ausruhen ...“, flüsterte
Alb. „Klingt gut.“ Kapitel
12 Die Kammer war kaum zehn Fuß
groß, bot jedoch trotzdem einem einfachen Holzbett und einem
Kerzenleuchter Platz. Durch ein schmales Fenster drang fahles Licht
in die Kammer und tauchte alles in ein Zwielicht. Es roch nach Holz
und Kerzenwachs.
Alb ließ sich mit hängenden
Ohren und seufzend auf das Bett nieder. „Ich habe doch keine
Ahnung, wie mein echtes Leben so aussieht. Und warum erinnere ich
mich nicht daran?“ Mune spürte die Angst und
Unsicherheit des weißen Fauns. Er griff nach dem Feuerstein,
der neben dem Kerzenleuchter lag und entzündete den Docht der
Kerze. Der Raum war sogleich von einem warmen, behaglichen Licht
erfüllt. Dann setzte sich der blaue Faun neben Alb, legte seine
Pfote um dessen Schulter und sagte leise: Alb blickte Mune fragend an. Daran
hatte er noch gar nicht gedacht … „Latara?“ Mune nickte. „Ihr kanntet euch
sehr gut und hattet großes Vertrauen zueinander. Gut möglich,
dass ihr euch in eurer Welt auch gut kennt. Vielleicht sogar ...“
Mune verharrte, zog seine Pfote wieder zurück und wandte sein
Gesicht ab. „Vielleicht seid ihr sogar ein Paar.“ Dem weißen Faun entging nicht
eine gewisse Enttäuschung in Munes Ton.
„Ich …“, begann Alb
langsam und unsicher. „Ich habe mich noch nie gepaart.“ „Wie willst du dir da so sicher
sein?“, fragte Mune, mit deutlich erregter Stimme. „Du
erinnerst dich nicht an dein Leben in deiner Welt ...“ „So was weiß man, glaube es
mir.“, sagte Alb müde. „Und selbst wenn … in
dieser Welt hier habe ich mich noch nie gepaart, und alles was für
mich im Moment zählt ist, an was ich mich erinnere.“ Mune wollte etwas sagen, doch er
verharrte und nickte lächelnd. „Das macht wirklich Sinn.“ Die beiden Faune schwiegen einen Moment
lang; jeder blickte in die andere Richtung, dann auf den Boden, dann
wanderten ihre Blicke zur Kerze. „Schönes Licht“,
sagten beide gleichzeitig, sahen sich an und lachten leise. Bei allen Sternen und Sonnen …
sein Lachen ist so wunderschön! Dachte Alb als er Munes
wunderschönes Gesicht lachen sah. In seinen Augen funkelte das
Licht der Kerze vermischt mit dem fahlen Licht der Nacht zu einem
schier endlos erscheinenden Ozean aus Edelsteinen … „Ja“, kicherte Mune. „So
eine Kerze ist schon was Tolles.“ Dann schüttelte der
Wächter des Mondes den Kopf. „Was man für Unsinn
redet, wenn man nicht weiß, was man sagen soll.“ Wieder Schweigen. Albs Pfote wanderte
über die Bettdecke langsam Richtung Munes Pfote, und als sie
sich berührten bemerkte der jeweils andere, dass sie sich
aufeinander zubewegt und die selbe Idee gehabt hatten. „Ich weiß auch nicht, was
ich sagen soll.“ sagte Alb leise. Seine Pfote zitterte, denn
Mune erwiderte seine Berührung. Sein Herz schlug schneller. Mune ließ seine Ohren hängen
und blickte verstohlen zur Seite. „Ich habe mich auch noch nie
gepaart. Verliebt – ja. Aber … noch nie geliebt.“
Der blaue Faun blickte traurig zum Fenster.
„Vielleicht“, begann Alb
langsam und leise. „Vielleicht könnten wir … uns
paaren?“ Der blaue Faun blickte ihn erschrocken
an und Alb spürte, wie Mune seine Pfote fester hielt. Er spürte
dessen Herzschlag, sein tiefes Ein- und Ausatmen. Dann beugte sich Mune zu Alb vor,
schloss die Augen und küsste ihn auf den Mund. Alb konnte nicht glauben, was gerade
geschah; konnte nicht glauben, was er vor zwei Herzschlägen noch
zu Mune gesagt hatte. Aber dann ließ er sich einfach fallen,
umschlang Mune mit seinen Armen und erwiderte den Kuss. Sie ließen sich auf das Bett
fallen, und küssten sich innig und leidenschaftlich, Alb spürte, wie Mune das Fell an
seinem Nacken, seinen Schultern und seinen Wangen streichelte. Der
weiße Faun erkundete mit seinen Pfoten ebenfalls das blaue Fell
des Wächters des Mondes … Gemeinsam spürten sie den
Herzschlag des jeweils anderen, die Wärme, die Nähe, die
Energie … Alb umschloss mit seinen Pfoten Munes
Kopf, streichelte über seine Ohren und sah tief in seine Augen.
„Du bist so wunderschön … ich liebe dich, Mune.“ Mune erwiderte die Berührung und
lächelte. „Du bist so lieb … und wunderschön.
Alb ...“ Sie küssten sich wieder und Alb
begann leise zu weinen. „Ich will immer bei dir sein, Mune ...“ Mune umschlang Albs Körper wortlos
und schmiegte seine Wange gegen Albs Wange. „Ich bin hier, ich
bin bei dir, Alb.“, flüsterte er Alb ins Ohr. „Mune ...“ Kapitel
13 Eng umschlungen lagen Mune und Alb auf
dem Bett. Alb schmiegte seine Wange an Munes Brust. Der Raum war vom
Duft der Liebe erfüllt, beide Faune fühlten sich sehr
entspannt und glücklich. Sie sprachen kein einziges Wort, denn
jedes Wort würde nur den Schmerz des Abschieds verschlimmern. Schließlich war die Zeit
gekommen, wo der Mondtempel auf die Rückkehr seines Wächters
wartete, und sie Tanos Stimme rufen hörten: „Die Sanduhr ist abgelaufen, ihr
habt nur wenige Minuten Zeit, dann schließt sich das Tor in die
Welt von deinem weißen Freund wieder.“ Die Faune blickten sich traurig in die
Augen.
„Ich muss gehen ...“,
flüsterte Alb. „Aber ich will bei dir bleiben.“ „Du musst aber in deine Welt.“,
sagte Mune, und in seinen Augen schimmerten Tränen. Auch er
wollte Alb nicht gehen lassen. Sie hatten sich ineinander verliebt,
hatten sich gepaart und nun sollen sie Abschied nehmen? Der Wächter
des Mondes schluckte eine Träne hinunter. „Deine Träume
richten hier in dieser Welt zu großen Schaden an. Außerdem
gibt es vielleicht Freunde und Familie, die in deiner Welt auf dich
warten.“ Alb wischte sich Tränen aus den
Augen und nickte. „Ja, ich weiß. Aber … aber ...“ Mune küsste Alb sanft auf den Mund
und beide schmiegten sie ihre Wangen aneinander. „Hey, Freunde!“, hörten
sie Tano rufen. „Die Zeit läuft ab!“ „Du musst gehen.“, sagte
Mune mit tränen erstickter Stimme.
Kapitel
14 Beide begaben sie sich nach unten,
folgten Tano die Treppe bis vor den Turm. Eine tiefe Schwärze
breitete sich vor ihnen aus. Mune sagte zu Tano gewandt: „Kannst
du uns alleine lassen?“ Der alte Mann nickte. „Dein
Freund muss einfach nur springen.“ An Alb gerichtet sagte Tano:
„Alles Gute.“ Alb nickte. „Danke, Tano.“ Dann waren sie alleine und blickten in
die Dunkelheit. „Ich habe Angst.“,
flüsterte Alb. „Was ist, wenn ich ewig falle? Was ist,
wenn es nicht funktioniert?“ „Es wird funktionieren.“ „Ich werde dich nie wieder sehen,
oder?“ Mune legte seine Pfote auf Albs
Schulter und schüttelte traurig den Kopf.
Alb schloss die Augen. „Und wenn
ich dich vergesse?“ Mune nahm Alb in seine Arme.
„Alb, ich werde immer bei dir
sein.
Immer, wenn die Nacht über dein
Land hereinbricht, der Mond hell und prächtig am Himmel steht,
dein Heim mit seinem Schein erhellt, dich in den Schlaf wiegt und
sich behütet … dann wirst du bei mir sein, wenn du das
Land der Träume betrittst.
Denn nur in unseren Träumen
sind wir wirklich frei.
Fällst du in die Dunkelheit der
Albträume, dann fange ich dich auf. Ich bekämpfe und
vertreibe deine Dämonen und verjage die Monster deiner bösen
Träume. Ich befreie dich aus jedem Gefängnis aus Eis,
Dornen und Feuer. Du magst dich in deiner Welt
vielleicht nicht mehr an mich erinnern, aber in deinen Träumen
wirst du es. Und da werden wir zusammen sein, jede Nacht, für
immer.“ „Ich danke dir, Mune.“,
flüsterte Alb, küsste Mune auf den Mund. „Ich liebe
dich, Wächter des Mondes und Hüter meiner Träume.“ „Ich liebe dich auch.“,
antwortete Mune leise. Er spürte, wie Alb sich langsam aus
seiner Umarmung löste, ihm ein letztes Mal in die Augen sah,
lächelte, seine Augen wieder schloss … und in die
Dunkelheit sprang. Ich wandere durch die
Dunkelheit, und suche den Weg zum
Licht. Von Stille eingehüllt
und Einsamkeit, finde ich den Pfad zu dir
einfach nicht. Dann sehe ich den Mond in
der Ferne ganz klar, mir wurde die Anwesenheit
einer großen Macht gewahr. Denn du warst bei mir, du hälst meine Hand. Du lässt mich nicht
alleine, in diesem dunklen und
kalten Land. Ich sehe dein blaues
Fell, deine Augen – kostbarsten Edelsteinen gleich, dein Fell ein Meer aus
Wärme, Liebe und Glück ganz weich. Du streckst mir deine
Pfote aus, hälst mich ganz fest, sagst, ich wäre wie
ein junger Vogel der verloren hat sein Nest. Dein Lächeln lässt
mich alle Sorgen vergessen,
die Kälte und
Einsamkeit verschwindet, meine Seele sie windet, sich um dich und deine um
mich, und wir umschlingen
einander unsere Körper, ich spüre deine
Wärme, deinen Herzschlag, deine wärmende Güte. Unser Kuss ist die
Verschmelzung von unendlich scheinender Energie, gespürt habe ich
solch ein Verlangen, solche eine Explosion noch nie! Mune, ich liebe dich so
sehr und du sagst, du liebst mich auch, und lachst „Komm her!“ Bei meiner Wanderung
durch die Dunkelheit, bist du wie eine Laterne,
die mir den Weg weist. Für immer sollen wir
gemeinsam wandern, durch verschlungene Pfade
in der Schönheit der Nacht, der helle Mond, der über
uns wacht.
Artwork: Dream eating fawn and the desert crossing serpent by fantasygerard2000
„Du wirst
dich wieder erinnern, sobald du gesprungen bist. Und wer weiß?
Vielleicht begegnest du Latara in der anderen Welt?!“
*******
"Mune - The Guardian of the Moon"
Production company: On Animation Studios
Onyx Films
Kinology
Orange Studio
Distributed by Paramount Pictures France
Release date : 6 December 2014 (Forum des images)
14 October 2015 (France)
19 March 2021 (United States)